ANEIGNUNG UND POLEMIK
 
- Inhaltsverzeichnis -
Schopenhauer und der (dialektische) Materialismus
Der Königsweg zu Schopenhauers Philosophie - seine Vorlesungen
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
Schopenhauer´s Lehre in nuce

Schopenhauer und der (dialektische) Materialismus

Für Friedrich Engels galt Arthur Schopenhauer als idealistischer Philosoph und Ideologe des preußischen Junkertums, dessen Denken nichts als flache auf den Philister zugeschnitten Reflexionen seien.
Engels Epigonen urteilten kaum anders, doch mir scheint, es hat sich von denen niemand wirklich mit Schopenhauer auseinander gesetzt. Dabei gibt es hinsichtlich des Grundproblems der Philosophie (und überhaupt) manche Schnittpunkte.

In Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie schreibt Engels:

Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein... Die Frage nach der Stellung des Denkens zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik des Mittelalters ihre große Rolle gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? - diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da? Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen - und diese Schöpfung ist oft bei den Philosophen, z.B. bei Hegel, noch weit verzwickter und unmöglicher als im Christentum -, bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus.
MEW 21, 274 f.

Wer auch nur ein wenig mit Schopenhauer vertraut ist, der wird finden, dass diese Grundfrage auch ihn umtreibt, denn auch er kennzeichnet diese Frage als die Grundfrage insbesondere der neueren Philosophie:

Cartesius gilt mit Recht für den Vater der neuern Philosophie, [H: zunächst und im Allgemeinen, weil er die Vernunft angeleitet hat, auf eigenen Beinen zu stehn, indem er die Menschen lehrte, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen, für welchen bis dahin die Bibel einerseits und der Aristoteles andrerseits funktionirten; im besondern aber und engern Sinne,] weil er zuerst sich das Problem zum Bewußtseyn gebracht hat, um welches seitdem alles Philosophiren sich hauptsächlich dreht: das Problem vom Idealen und Realen, d.h. die Frage, was in unserer Erkenntniß objektiv und was darin subjektiv sei, also was darin etwanigen, von uns verschiedenen Dingen, und was uns selber zuzuschreiben sei. - In unserm Kopfe nämlich entstehen, nicht auf innern, - etwan von der Willkür, oder dem Gedankenzusammenhange ausgehenden, - folglich auf äußern Anlaß, Bilder. Diese Bilder allein sind das uns unmittelbar Bekannte, das Gegebene. Welches Verhältniß mögen sie haben zu Dingen, die völlig gesondert und unabhängig von uns existirten und irgendwie Ursache dieser Bilder würden? Haben wir Gewißheit, daß überhaupt solche Dinge nur dasind? und geben, in diesem Fall, die Bilder uns auch über deren Beschaffenheit Aufschluß? - Dies ist das Problem, und in Folge desselben ist, seit 200 Jahren, das Hauptbestreben der Philosophen, das Ideale, d.h. Das, was unserer Erkenntniß allein und als solcher angehört, von dem Realen, d.h. dem unabhängig von ihr Vorhandenen, rein zu sondern, durch einen in der rechten Linie wohlgeführten Schnitt, und so das Verhältniß Beider zu einander festzustellen.
Parerga und Paralipomena, Skitze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen

Ausgehend von Kant und Schopenhauer konnte deshalb Deussen im § 29 seiner Einführung in die Metaphysik schreiben:

So gewiß der Materialismus allem Tiefsten und Höchsten in Philosophie und Religion Hohn spricht, so gewiß seine Konsequenzen auf dem Gebiete der Kunst platt und gemein, auf dem der Moral heillos, trostlos und ruchlos sind, - ebenso gewiß bleibt es, daß er auf empirischem Standpunkte die allein richtige und konsequenteste Weltanschuung und somit "das Ideal" ist, welchem die empirischen Wissenschaften zustreben und welches sie mit der Zeit mehr und mehr erreichen werden. Daher es verlorene Mühe ist, den Materialismus widerlegen zu wollen. Wohl aber fragt sich, ob es nicht möglich ist, ihn zu ergänzen durch eine höhere Weltansicht, welche ihn aufhebt, ohne mit ihm in Widerspruch zu treten.

Und da wir hier denken und nicht Schlagworte wiederholen wollen, werden wir Schopenhauer auch ins Gespräch mit dem dialektischen Materialismus zu bringen haben.

Vorweg, einzelnes wird im folgenden zu entwickeln sein:
Der dialektische Materialismus ist, sofern er mit der Abbildtheorie verknüpft ist, höchst problematisch. Problematisch ebenfalls die Vorstellung von Engels, dass das "Ding an sich" durch die Fortschritte in den Wissenschaften zu einem "Ding für uns" wird. Mir scheint, dass Engels die kantische bzw. schopenhauerische Zuordnung von empirischer Realität und transzendentaler Idealität überhaupt nicht zu Gesicht bekommt und dass sein Materialismus viel zu wenig reflektiert ist.
Das zeigt sich auch an seiner Abbildtheorie, die ja insofern unbeweisbar ist, als man ja das Abbild nicht neben die abzubildende Realität legen und vergleichen kann. - Auf diese und andere philosophische Probleme haben Kant und Schopenhauer meines Erachtens bessere Antworten als Marx, Engels, Lenin und deren Nachfolger.

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Schopenhauer´s Lehre in nuce

In der naturphilosophischen Schrift Über den Willen in der Natur gibt uns Schopenhauer selbst an zwei Stellen eine komprimierte Zusammenfassung seiner Metaphysik; die eine befindet sich in der Einleitung und lautet:

Kern und Hauptpunkt meiner Lehre, die eigentliche Metaphysik derselben, also jene paradoxe Grundwahrheit, daß Das, was Kant als das Ding an sich der bloßen Erscheinung, von mir entschiedener Vorstellung genannt, entgegensetzte und für schlechthin unerkennbar hielt, daß, sage ich, dieses Ding an sich, dieses Substrat aller Erscheinungen, mithin der ganzen Natur, nichts Anderes ist, als jenes uns unmittelbar Bekannte und sehr genau Vertraute, was wir im Innern unseres eigenen Selbst als Willen finden; daß demnach dieser Wille, weit davon entfernt, wie alle bisherigen Philosophen annahmen, von der Erkenntniß unzertrennlich und sogar ein bloßes Resultat derselben zu seyn, von dieser, die ganz sekundär und spätern Ursprungs ist, grundverschieden und völlig unabhängig ist, folglich auch ohne sie bestehn und sich äußern kann, welches in der gesammten Natur, von der thierischen abwärts, wirklich der Fall ist; ja, daß dieser Wille, als das alleinige Ding an sich, das allein wahrhaft Reale, allein Ursprüngliche und Metaphysische, in einer Welt, wo alles Uebrige nur Erscheinung, d.h. bloße Vorstellung, ist, jedem Dinge, was immer es auch seyn mag, die Kraft verleiht, vermöge deren es daseyn und wirken kann; daß demnach nicht allein die willkührlichen Aktionen thierischer Wesen, sondern auch das organische Getriebe ihres belebten Leibes, sogar die Gestalt und Beschaffenheit desselben, ferner auch die Vegetation der Pflanzen, und endlich selbst im unorganischen Reiche die Krystallisation und überhaupt jede ursprüngliche Kraft, die sich in physischen und chemischen Erscheinungen manifestirt, ja, die Schwere selbst, - an sich und außer der Erscheinung, welches bloß heißt außer unserm Kopf und seiner Vorstellung, geradezu identisch sind mit Dem, was wir in uns selbst als Willen finden, von welchem Willen wir die unmittelbarste und intimste Kenntniß haben, die überhaupt möglich ist; daß ferner die einzelnen Aeußerungen dieses Willens in Bewegung gesetzt werden bei erkennenden, d.h. thierischen Wesen durch Motive, aber nicht minder im organischen Leben des Thieres und der Pflanze durch Reize, bei Unorganischen endlich durch bloße Ursachen im engsten Sinne des Worts; welche Verschiedenheit bloß die Erscheinung betrifft; daß hingegen die Erkenntniß und ihr Substrat, der Intellekt, ein vom Willen gänzlich verschiedenes, bloß sekundäres, nur die höhern Stufen der Objektivation des Willens begleitendes Phänomen sey, ihm selbst unwesentlich, von seiner Erscheinung im thierischen Organismus abhängig, daher physisch, nicht metaphysisch, wie er selbst; daß folglich nie von Abwesenheit der Erkenntniß geschlossen werden kann auf Abwesenheit des Willens; vielmehr dieser sich auch in allen Erscheinungen der erkenntnißlosen, sowohl der vegetabilischen, als der unorganischen Natur nachweisen läßt; also nicht, wie man bisher ohne Ausnahme annahm, Wille durch Erkenntniß bedingt sei; wiewohl Erkenntniß durch Wille.
(aus der Einleitung)

Die andere prägnante Zusammenfassung findet sich im Kapitel "Physiologie und Pathologie":

Der Grundzug meiner Lehre, welcher sie zu allen je dagewesenen in Gegensatz stellt, ist die gänzliche Sonderung des Willens von der Erkenntniß, welche beide alle mir vorhergegangenen Philosophen als unzertrennlich, ja, den Willen als durch die Erkenntniß, die der Grundstoff unsers geistigen Wesens sei, bedingt und sogar meistens als eine bloße Funktion derselben ansahen. Jene Trennung aber, jene Zersetzung des so lange untheilbar gewesenen Ichs oder Seele, in zwei heterogene Bestandtheile, ist für die Philosophie Das, was die Zersetzung des Wassers für die Chemie gewesen ist; wenn dies auch erst spät erkannt werden wird. Bei mir ist das Ewige und Unzerstörbare im Menschen, welches daher auch das Lebensprincip in ihm ausmacht, nicht die Seele, sondern, mir einen chemischen Ausdruck zu gestatten, das Radikal der Seele, und dieses ist der Wille. Die sogenannte Seele ist schon zusammengesetzt: sie ist die Verbindung des Willens mit dem nous, Intellekt. Dieser Intellekt ist das Sekundäre, ist das posterius des Organismus und, als eine bloße Gehirnfunktion, durch diesen bedingt. Der Wille hingegen ist primär, ist das prius des Organismus und dieser durch ihn bedingt. Denn der Wille ist dasjenige Wesen an sich, welches erst in der Vorstellung (jener bloßen Gehirnfunktion) sich als ein solcher organischer Leib darstellt: nur vermöge der Formen der Erkenntniß (oder Gehirnfunktion), also nur in der Vorstellung, ist der Leib eines Jeden ihm als ein Ausgedehntes, Gegliedertes, Organisches gegeben, nicht außerdem, nicht unmittelbar im Selbstbewußtseyn. Wie die Aktionen des Leibes nur die in der Vorstellung sich abbildenden einzelnen Akte des Willens sind, so ist auch ihr Substrat, die Gestalt dieses Leibes, sein Bild im Ganzen: daher ist in allen organischen Funktionen des Leibes, eben so gut wie in seinen äußern Aktionen, der Wille das agens. Die wahre Physiologie, auf ihrer Höhe, weist das Geistige im Menschen (die Erkenntniß) als Produkt seines Physischen nach; und das hat, wie kein Andrer, Cabanis geleistet: aber die wahre Metaphysik belehrt uns, daß dieses Physische selbst bloßes Produkt, oder vielmehr Erscheinung, eines Geistigen (des Willens) sei, ja, daß die Materie selbst durch die Vorstellung bedingt sei, in welcher allein sie existirt. Das Anschauen und Denken wird immer mehr aus dem Organismus erklärt werden, nie aber das Wollen, sondern umgekehrt, aus diesem der Organismus; wie ich unter der folgenden Rubrik nachweise. Ich setze also erstlich den Willen, als Ding an sich, völlig Ursprüngliches; zweitens seine bloße Sichtbarkeit, Objektivation, den Leib; und drittens die Erkenntniß, als bloße Funktion eines Theils dieses Leibes. Dieser Theil selbst ist das objektivirte (Vorstellung gewordene) Erkennenwollen, indem der Wille, zu seinen Zwecken, der Erkenntniß bedarf. Diese Funktion nun aber bedingt wieder die ganze Welt als Vorstellung, mithin auch den Leib selbst, sofern er anschauliches Objekt ist, ja, die Materie überhaupt, als welche nur in der Vorstellung vorhanden ist. Denn eine objektive Welt, ohne ein Subjekt, in dessen Bewußtseyn sie dasteht, ist, wohlerwogen, etwas schlechthin Undenkbares. Die Erkenntniß und die Materie (Subjekt und Objekt) sind also nur relativ für einander da und machen die Erscheinung aus. Mithin steht, durch meine Fundamentalveränderung, die Sache so, wie sie noch nie gestanden hat.

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