ANEIGNUNG UND POLEMIK
 

Elemente der Metaphysik

Das Kompendium der Philosophie Kants und Schopenhauers von Paul Deussen wurde vom Gründer der Schopenhauer-Gesellschaft "als Leitfaden zum Gebrauche bei Vorlesungen sowie zum Selbststudium zusammengestellt". Ich gebe den Text nach der 5. Auflage von 1913, Leipzig: F.A. Brockhaus

Zur Ergänzung empfehle ich auch Deussens "Die neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer", wo er sowohl Kant als auch Schopenhauer konzise darstellt und Schopenhauer als Vollender der kantischen kritischen Philosophie würdigt.

[Längere Zitate von Plato, die Deussen unübersetzt läßt, werde ich stillschweigend mittels der Software Plato im Kontext Plus in der dort gebotenen Übersetzung übernehmen. Andere Übersetzungen sind von mir.]

Paul Deussen: Elemente der Metaphysik
Inhalts-Verzeichnis

Vorbetrachtung über das Wesen des Idealismus
Vorbemerkungen: Physik und Metaphysik

A. Der empirische Standpunkt
SYSTEM DER PHYSIK

I. Vom Raume
II. Von der Zeit
III. Von der Materie
IV. Von der Kausalität
V. Von den Naturkräften
VI. Der Materialismus als Konsequenz der empirischen Weltanschauung
VII. Trostlosigkeit der empirischen Weltanschauung

B. Der transzendentale Standpunkt
SYSTEM DER METAPHYSIK

Des Systemes der Metaphysik erster Teil:
Die Theorie des Erkennens

I. Vorläufige Übersicht
II. Das Problem der anschaulichen Erkenntnis
III. Die Welt ist meine Vorstellung
IV. Ob die Dinge an sich ebenso sind, wie ich sie vorstelle?
V. Elemente der Vorstellung a priori und a posteriori
VI. Leitfaden zur Auffindung der Elemente a priori in meinen Vorstellungen
VII. Die Elemente a priori sind: Raum, Zeit und Kausalität
VIII. Der Raum ist eine Anschauungsform a priori
IX. Die Zeit ist eine Anschauungsform a priori
X. Die Kausaltität ist eine Anschauungsform a priori
XI. Der empirische und der transzendentale Standpunkt
XII. Transzendentale Analysis der empirischen Realität
XIII. Vom unmittelbaren und mittelbaren Verstandesgebrauche
XIV. Ob es angeborne Ideen gebe?
XV. Theorie des Traumes
XVI. Transzendentale Auflösung der Materie
XVII. Die Doppel-Welt der Halb-Philosophen
XVIII. Kant und die Philosophie nach ihm

Anhang zum ersten Teile der Metaphysik:
Die Vernunft und ihr Inhalt

XIX. Übersicht
XX. Ursprung und Wesen der Begriffe
XXI. Einiges über Verbindungen der Begriffe
XXII. Ob die Vernunft ein besonderes physiologisches Organ sei?

Vorbetrachtung über das Wesen des Idealismus
(als Vorwort zur dritten Auflage, 1902)

Das vorliegende Buch, welches 1877 in erster, 1890 in zweiter Auflage, 1894 in englischer und 1899 in französischer Übersetzung - Zwei weitere Übersetzungen, eine italienische von Suali und eine solche in Sanskrit durch Govindapilla, erschienen 1912 - erschien, hat sich während der fünfundzwanzig Jahre seines Bestehens in meinen und anderen Händen bewährt als das, was es sein soll: als eine kurze, klare und treue Zusammenfassung dessen, was der menschliche Geist in seinem mehr als dreitausendjährigen Suchen und Ringen nach der philosophischen Wahrheit an bleibenden und allgemein gültigen Resultaten zutage gefördert hat. Daß diese Resultate nach unserer Auffassung wesentlich in der Linie der kantischen und schopenhauerischen Anschauungen liegen, wird dem Buche, wenn nicht schon in der Gegenwart, so doch in Zukunft je länger um so mehr zur Empfehlung gereichen. Daß aber der kantisch-schopenhauersche Idealismus in tiefster innerer Übereinstimmung mit dem besten steht, was die indische, griechische und biblische Weisheit auf ihren Höhepunkten in den Upanishad´s des Veda, in der platonischen Philosophie und im Neuen Testamente hervorgebracht hat, dies ist eine Überzeugung, welche sich jedem um so mehr aufdrängen muß, je ernster und anhaltender er sich mit den genannte Gedankenkreisen beschäftigt. Meine erst teilweise erschienene "Allgemeine Geschichte der Philosophie" versucht es, den Nachweis dieser innern Verwandtschaft der indischen, platonischen und christlichen Weltanschauung mit dem kantischen Idealismus im einzelnen zu erbringen; aber auch schon das vorliegende Buch läßt überall jene Verwandtschaft in ihren Grundzügen durch blicken und dürfte jedenfalls ausreichen, um allen, die sehen können und wollen, zum deutlichen Bewußtsein zu bringen, daß eine Versöhnung der unabweisbaren Forderungen der Wissenschaft und der nicht weniger berechtigten Ansprüche des religiösen Gemütes auf dem von uns eingeschlagenen Wege, und nur auf diesem, zu erreichen ist.

Im Grunde liegen auch hier die Dinge einfacher, als es zunächst scheinen mag, und so wie alle bestehenden Moraltheorien sich auf zwei zurückführen lassen, von deren Anhängern die einen das Wort "Glückseligkeit", die andern das Wort "Selbstverleugnung" auf ihre Fahne schreiben, so gibt es auch für die theoretische Weltbetrachtung nur zwei mögliche Standpunkte, den Realismus, welcher die Realität, d.h. das Bestehen der Außenwelt auch unabhängig von dem jedesmaligen Bewußtsein, in welchem sie dasteht behauptet (wenn er sie auch nie beweisen kann), und den Idealismus, welcher an der ersten und ursprünglichsten aller Tatsachen festhält, daran nämlich, daß die ganze räumlich ausgebreitete Welt nie und nirgends besteht außer in dem Bewußtsein und daher nur ideal, d.h. nur Vorstellung, nur die Form ist, unter welcher das Seiende in meinem Bewußtsein erscheint, denn aus diesem bin ich noch nie, ist noch nie jemand herausgekommen. Der erste dieser beiden allein möglichen Standpunkte, welcher an eine vom Bewußtsein unabhängige Realität der Welt glaubt, führt, wie im vorliegenden Buche gezeigt wird, notwendig zum Materialismus, und alle diejenigen, welche sich Realisten, Positivisten, Empiristen, Empirio-Kritizisten, Idealrealisten usw. nennen, müßten, wenn sie konsequent wären, zum Materialismus sans phrase übergehen, welcher für den empirischen, den Naturwissenschaften eigenen Standpunkt die allein berechtigte und widerspruchslos in sich zusammenhängende Weltanschauung ist und bleibt. Denn, daß der uns umgebende Raum nach allen Richtungen hin unendlich ist, das läßt sich jedem beweisen, der überhaupt für Beweise empfänglich ist; in dem Raume aber kann es nur das geben, was ihn erfüllt, und dieses eben nennen wir Materie; sie ist ihrer genauesten Definition nach "das einen Raum Erfüllende". Diese empirische, notwendig zum Materialismus führende Anschauungsweise bleibt auch auf kantischem Standpunkte wahr, nur daß Kant diese ganze im Raum sich ausbreitende, durch und durch materielle Welt nachweist als die bloße Form, in der die Dinge uns erscheinen, nicht in der sie an sich sind, wodurch dann sich die Möglichkeit einer anderen, nicht räumlichen, nicht materiellen Ordnung der Dinge eröffnet, sowenig auch unser an Raum, Zeit und Kausalität gebundener Intellekt eine solche transzendente, überweltliche, göttliche Ordnung der Dinge zu erkennen vermag. Einen dritten Standpunkt außer den genannten beiden, dem zum Materialismus führenden Realismus, der die Außenwelt für real, und dem durch Kant begründeten Idealismus, der sie für nicht im höchsten Sinne real hält, kann es nicht geben, und wir haben uns zu entscheiden, ob wir in irgend einer Form die kantischen Grundanschauungen uns aneignen oder aber dem vollständigen Materialismus verfallen wollen: aut Kantianismus aut Materialismus; eine dritte Möglichkeit ist nicht vorhanden.

Daß eine mit der Naturwissenschaft vereinbare religiöse Weltanschauung nur auf dem Boden der kantischen Philosophie möglich ist, daß somit alle, die großen religiösen Lehrer der Menschheit im Orient und Okzident, in alter und neuer Zeit, diese unsere Grundanschauung geteilt haben und also gleichsam unbewußte Kantianer gewesen sind, davon kann man sich auf experimentellem Wege leicht überzeugen, wenn man sich mit irgendeinem orthodoxen, übrigens aber konsequent denkenden Theologen einläßt: es wird nicht schwer sein, ihm zu beweisen, daß er dämmerhaft, unbewußt und unbewiesen eben das voraussetzt, was durch Kant und Schopenhauer in das helle Sonnenlicht der wissenschaftlichen Erkenntnis erhoben worden ist.

Bei der unvergleichlichen Wichtigkeit dieser Philosophie für alle, die ihr wissenschaftliches Gewissen mit ihrem religiösen Fühlen in Einklang bringen möchten, ist es zu bedauer, daß ein wirkliches Verständnis des kantischen transzendentalen Idealismus, welcher den empirischen Realismus keineswegs ausschließt, auch heute noch, in allem was darüber geredet und geschrieben wird, nicht gerade häufig zu finden ist, und wir wollen versuchen, hier an hervortretender Stelle so kurz und klar wie möglich unseren Idealismus den zahlreichen Mißverständnissen desselben gegenüber richtig zu stellen.

Die Frage, um welches sich seit hundert Jahren wie um eine Angel die ganze Philosophie dreht, und von deren Beantwortung alle weiteren Entscheidungen abhängig sind, ist einfach diese: wie komme ich zu einer Anschauung der Außenwelt? Wie ist es z.B. möglich, daß ich einen außer mir und fern von mir befindlichen Gegenstand, etwa einen am jenseitigen Ufer des Flusses wachsenden Baum, sehe? - Hier, wie überall, muß die naturwissenschaftliche Erklärung den Ausgangspunkt bilden. Diese lehrt, wie die von dem Gegenstand zurückgeworfenen Lichtstrahlen in mein Auge gelangen, sich in der Linse kreuzen und wie in einer camaera obscura auf der Netzhaut das umgekehrt stehende Bild des Gegenstandes hervorbringen. Auf den Reiz, den das Retinabild vermittelst des Sehnerven auf das Gehirn ausübt, reagiert dieses, und das Resultat ist sofort und unmittelbar der draußen im Raume und entfernt von mir sich darstellende Gegenstand. Alle Momente dieses Prozesses, der Baum da draußen, sein umgekehrt stehendes Bild auf der Netzhaut beider Augen und das auf diese Eindrücke reagierende Gehirn, sind durchaus materiell, sind nur Körper und Funktionen körperlicher Organe. Aber diese empirische Materialität des ganzen Vorganges schließt nicht aus, daß er und alle seine Momente nur die Art sind, wie ich den ganzen Prozeß in meinem Bewußtsein vorstelle, nicht wie er an sich und außerhalb meines Bewußtseins sein mag. Vorstellung in meinem Bewußtsein ist also das da draußen im Raume sich ausbreitende Objekt, Vorstellung ist mein Auge und das in ihm sich abzeichnende Flächenbild, Vorstellung ist auch das gegen die Eindrücke der Sinnesorgane reagierende und dadurch erst die Vorstellung erzeugende Gehirn selbst. Der scheinbare Widerspruch, welcher darin liegt, daß das Gehirn ein Produkt der Vorstellung, und die Vorstellung ein Produkt des Gehirnes ist, wird uns nachher beschäftigen. Hier kommt es zunächst darauf an, die große Wahrheit einzusehen, mit der alle Philosophie zu beginnen hat, die Wahrheit, daß diese ganze Welt mit all ihrem Inhalte, dazu auch mein eigner Leib mit allen seinen Organen und Funktionen, mag dies alles an sich sein was es wolle, für mich nie etwas anderes war, ist und je sein wird als eine Reihe von Vorstellungen in meinem Bewußtsein. Denn aus meinem Bewußtsein kann ich sowenig heraus wie der Krebs aus seiner Schale (wie Schopenhauer sagt); ich kann nicht in die Dinge hineinfahren, um unmittelbar zu fühlen und inne zu werden, was sie an sich selbst sein mögen; die Dinge müssen zu mir kommen, sich in meinem Bewußtsein darstellen, und in diesen sind alle Dinge der Welt, und mit ihnen mein eigner Leib, nur Vorstellungen und nie etwas anderes. "Die Welt ist meine Vorstellung", dies ist, wie Schopenhauer sagt, ein Satz, welchen jeder zugibt, sobald er ihn versteht, wenn auch nicht ein solcher, welchen jeder versteht, sobald er ihn hört. So unwidersprechlich diese Wahrheit ist, so groß sind die Schwierigkeiten, in die wir uns durch sie verwickeln. Von ihnen wird sogleich die Rede sein. Zuvor aber wollen wir zwei Folgerungen aus diesem Satze uns klar machen, welche geeignet sind, seine Schwierigkeiten nur noch größer erscheinen zu lassen. Die erste ist, daß der Gegenstand nicht von seiner Vorstellung verschieden, sondern selbst diese Vorstellung ist; die zweite ist, daß die Vorstellung zwar in mir entsteht, aber darum doch nicht in mir, sondern sofort außerhalb meiner liegt.

Also erstlich: Es ist ganz falsch und irreführend, wenn man, wie der von Spinoza bis auf die Gegenwart sich hinziehende Ideal-Realismus es tut, die Vorstellung von dem Ding selbst, die Welt der Vorstellungen von der Welt der Dinge unterscheidet. Denn wenn ich von einem Dinge rede, so ist es doch dasjenige, was ich mit meine Augen sehe und mit meinen Händen betaste. Aber alle Eindrücke, welche ich auf diesem und auf jedem andern Wege empfangen mag, dazu auch das sehende Auge und die tastende Hand selbst, sie alle können mir immer nur als eine Summe von Empfindungen gegeben sein; diese aber sind als solche, soweit sie überhaupt für mich etwas sind, nur Modifikationen meines Bewußtseins, aus welchen das Bewußtsein durch Anwendung seiner angeborenen Formen, Raum, Zeit und Kausalität, die Dinge erzeugt. Somit folgt, daß alle Dinge, wie sie sich im Raume ausbreiten, diese Tische und Bänke, diese Pflanzen, Tiere und Menschen um mich her, dazu die Erde, welche sie trägt, und die Sonne, welche sie bescheint, daß dies und alles in der Welt nur Vorstellung meines Bewußtseins ist. Nichts desto weniger sind die Dinge nicht bloße Traumerscheinungen, Phantasiebilder, Halluzinationen u. dgl.; sondern sie haben im Gegensatze zu diesen, welche nur subjektiv sind, eine von meiner Subjektivität unabhängige Realität; aber diese Realität ist eine transzendente, und unser Intellekt kann nie in sie eindringen, kann nur bis an ihre Grenzen vordringen, wo ihm das unerkennbare Ding an sich in Gestalt der platonischen Ideen entgegentritt, von denen noch weiter unten die Rede sein wird.

Die zweite Folgerung aus dem obigen Satze, daß die Welt meine Vorstellung ist, führt uns zu der paradoxen Ansicht, daß, wenn auch der ganze Prozeß des Vorstellens sich in mir, in meinem Kopfe abspielt, das Resultat dieses Prozesses (für welchen auch das Retinabild als bloßes Vehikel dient), d.h. die Vorstellung nicht in mir, sondern sofort als das körperliche Objekt im Raume außer mir liegt. Wie die Katze ihre Pfoten und Krallen aus sich herausstreckt, um die Maus zu ergreifen, so streckt der Verstand seine ihm einwohnenden Raumfunktion, Zeitfunktion und Kausalität aus dem Gehirn, als dessen Funktionen sie auftreten, hinaus und in die Außenwelt hinein, um deren Erscheinungen zu ergreifen. Was aber der Verstand auf diesem und jedem Wege ergreift, das kann nie etwas anderes sein als Vorstellung. Auch hier ist vor dem Irrtum zu warnen, daß das Ding außer mir und die von ihm verschiedene Vorstellung in mir liege. In mir liegt nur das Gehirn mit seinen so rätselhaften Funktionen. Aber das Produkt dieser Funktionen, mögen sie nun in mechanischen Schwingungen der Hirnzellen oder in chemischen Austauschen bestehen, liegt nicht im Gehirn, in welchem noch kein Anatom so etwas wie eine Galerie von Bilderchen entdeckt hat, noch auch im Retinabilde, welches als solches gar nicht zum Bewußtsein kommt und nur den Übergang vermittelt, sonder sofort außerhalb des Organismus als das Ding selbst. Was von der Welt als Vorstellung in uns liegt, darüber können wir uns leicht vergewissern, wenn wir irgendeinen Gegenstand betrachten und dann die Augen schließen, worauf sofort der Gegenstand verschwindet, als wäre er weggewischt, und nur ein schwaches Nachbild hinterläßt, welches auf einem Nachzittern der durch den Sinnesreiz erregten Nervenfasern beruht. Aus der Fähigkeit, dieses Nachzittern späterhin von innen her wieder hervorzurufen, erklären sich die Phantasiebilder, wie auch die Erinnerung des Gedächtnisses. Jeder weiß, wie beschränkt diese Fähigkeiten sind, und wie sehr hier das Reproduzierte an Klarheit und Energie gegen das ursprünglich Produzierte zurücksteht.

Alles Gesagte läßt sich zusammenfassen in dem großen kantischen Satze, daß die Welt vollkommene empirische Realität und dennoch transzendentale Idealität besitz. Wir bestreiten in keiner Weise ihre empirische Realität; wir denken nicht daran, die Dinge auf den Kopf zu stellen; es bleibt alles beim alten,, bleibt ganz so, wie das gemeine Bewußtsein es annimmt. Da draußen erstreckt sich nach allen Richtungen ins Unendliche der Raum, und in ihm sind die Dinge real vorhanden und zeigen in ihren Beschaffenheiten, Veränderungen und Wirkungen aufeinander eine Gesetzmäßigkeit, an welcher der sie anschauende Verstand nicht das Mindeste zu ändern vermag. Aber diese empirische Realität der Welt schließt nicht aus ihre transzendentale Idealität, schließt nicht aus die Tatsache, daß der ganze unendliche Raum mitsamt den Körpern in ihm, ja auch mitsamt meiner eignen Leiblichkeit nur ideal, nur die Form ist, wie ich die Dinge vorstelle, nicht wie sie an sich sein mögen. Was auch immer in letzter Hinsicht die Welt sein mag, als eine räumliche und zeitliche Ausbreitung ist sie nur für das Bewußtsein, weil durch das Bewußtsein vorhanden und würde ohne unser sie tragendes Bewußtsein überhaupt nicht existieren.

Dieser idealistischen Grundanschauung, welche nur den einfachen Tatbestand ausspricht, scheint nun aber die ebenfalls unbestreibare Tatsache entgegenzustehen, daß die Dinge nicht erst auf mich und mein Bewußtsein gewartet haben, um sich im Raume auszubreiten, daß sie in Raum und Zeit bestanden haben, ehe noch mein Bewußtsein, ja, ehe noch irgendein empirisches Bewußtsein vorhanden war. Denn dieses ist uns nur als organische Funktion bekannt, welche den Organismus, wie dieser wiederum die unorganische Natur, zur Voraussetzung hat. Die Welt hat lange bestanden, ehe ein Auge da war, sie zu betrachten; ja, ihre Grundverhältnisse, der Raum, die Zeit, die Materie, bestehen von Ewigkeit her. Sollen sie, wie unsere Philosophie behauptet, vom Bewußtsein abhängig sein, so muß auch das Bewußtsein als Träger der Welt von Ewigkeit her bestanden haben, und dem widerspricht die Tatsache, daß alles Bewußtsein den Organismus zur Voraussetzung hat, somit erst auf einer bestimmten Stufe der Weltentwicklung möglich ist. Wir scheinen hier wirklich in den "greifbaren Zirkel" zu verfallen, welchen Zeller bei Besprechung Schopenhauers ("Deutsche Philosophie", S. 713) diesem zum Vorwurfe macht (von dem übrigens die Lehre Kants ebenso sehr getroffen wird), in den Zirkel, "daß die Vorstellung ein Produkt des Gehirns, und das Gehirn ein Produkt der Vorstellung sein soll". Der Zirkel scheint allerdings (wie wir im Archiv für Gesch. d. Phil., III, S. 165 fg. auseinandergesetzt haben und von dort herüber nehmen wollen) "greifbar" zu sein. Das Bewußtsein als Funktion des Gehirns setzt voraus eine lange Weltentwicklung, in der es noch kein Gehirn und folglich kein Bewußtsein gab; die Weltentwicklung in Raum und Zeit aber setzt wiederum das Bewußtsein voraus, weil nur in diesem jene unendliche Zeit und die ganze in ihr abgelaufene Entwicklung der Welt möglich ist.

Zunächst kann es einigen Trost gewähren, daß sich hier der Naturforscher mit den Transzendentalphilosophen in gleicher Verdammnis befindet, sofern ersterer einen ganz analogen Zirkel begehen muß und begeht, falls ihm die Konsequenzen seines Unternehmens bewußt sind. Der Naturforscher geht aus von der Materie in Raum und Zeit als dem Gegebenen. Sein eigentliches Ziel und "Ideal" ist es, alles zu begreifen als Materie und Modifikation der Materie. Mit großer Mühe und steigendem Erfolge zeigt er, wie die unorganische Materie sich zum Organischen, zur Zelle, zum Organismus entwickelt, und wie dieser durch eine lange Stufenreihe sich emporarbeitet bis zu seiner höchsten Effloreszenz, zum menschlichen Gehirn, als dessen Arbeit von innen gesehen jene wunderbare Welt des Bewußtseins mit allen seinen Vorstellungen sich darstellt. Hat auch diese Deduktion noch manche Lücken, so zeigt doch die schon heute erwiesene völlige Abhängigkeit des Bewußtseins vom Gehirn, daß das Bewußtsein nur die Funktion des Gehirns, eines materiellen Organs in unserem Organismus ist. Nachdem wir aber den Entwicklungen des Naturforschers bis auf diesen Höhepunkt gefolgt sind, nachdem wir das Bewußtsein als organische Funktion des Gehirns erfaßt zu haben glauben, wandelt es uns plötzlich an, in ein Lachen der Überraschung auszubrechen und dem Naturforscher zuzurufen: "dasjenige, was du mit so vieler Bemühung als das letzte Produkt der Materie abgeleitet hast, das Bewußtsein als materielle Funktion des Gehirns, dieses Bewußtsein hast du von Anfang an immer schon vorausgesetzt, denn jene ganze Materie mit allen ihren unorganischen und organischen Bildungen ist nirgendwo anders vorhanden als in deinem Bewußtsein, aus welchem du nicht herauskommen kannst, du magst dich stellen wie du willst."

Man sieht, der Zirkel ist vollkommen analog und nur umgekehrt: der Philosoph geht aus vom Bewußtsein und konstruiert aus ihm die Materie, während doch das Bewußtsein eine Funktion der Materie ist; der Naturforscher geht aus von der Materie und konstruiert aus ihr das Bewußtsein, während doch die Materie nur gegeben ist im Bewußtsein.

Gleichwohl ist der Zirkel auf beiden Seiten nur scheinbar, da die Behauptung desselben auf einer μεταβασισ εισ αλλο γενοσ (metabasis eis allo genos = Wechsel in eine andere Gattung; Übergriff in ein anderes Gebiet) beruht, welche das empirische Bewußtsein mit dem transzendentalen verwechselt und von jenem behauptet, was nur von diesem gilt und umgekehrt. Wir wollen zeigen, wie.

Der große, alles beherrschende Gegensatz von Erscheinung und Ding an sich findet auch hier seine Anwendung. Das empirische Bewußtsein ist die Art, wie das Bewußtsein erscheint; das transendentale Bewußtsein die Art, wie es an sich ist.

1) Das empirische Bewußtsein ist die materielle Funktion eines materiellen Organes, des Gehirns. Als solches setzt es voraus den Raum, in dem es besteht, die Materie, aus der es besteht, die Zeit, in der es entsteht und wieder zugrunde geht; folglich kann es dieses nicht erst aus sich erzeugen. Es war eine dem populären Verständnis sehr dienliche, übrigens aber nicht zu billigende Unvorsichtigkeit Schopenhauers, Raum, Zeit und Kausalität (oder objektiv zu reden: Materie) als "Gehirnfunktionen" zu bezeichnen. Gehirnfunktionen sind nie etwas anderes als materielle Vorgänge in den Gehirnzellen, als welche das Bewußtsein erscheint, ohne mit ihnen identisch zu sein.

2) Das was in ihnen zur Erscheinung kommt, ist das transzendentale Bewußtsein. Diese erzeugt aus sich (wie Kant bewiesen hat) Raum, Zeit und Kausalität (Materie), liegt folglich nicht in ihnen, ist nirgendwo im Raume, niemals in der Zeit, also empirisch gesprochen, gar nicht vorhanden; es ist nicht innerhalb der empirischen Realität anzutreffen, weil es der Träger dieser ganzen empirischen Realität ist, ist das Subjekt des Erkennens und als solches selbst ewig unerkennbar, wie dies schon die Upanishad´s des Veda vortrefflich schildern: "Nicht sehen kannst du den Seher des Sehens, nicht hören kannst du den Hörer des Hörens" usw. Tiefsinnig entwickelt dasselbe Yajnavalkya in dem Gespräche mit seiner Gattin Maitreyi (Brih. Up. 2,4,12 fg., S. 418 meiner Übersetzung). Hier schildert er zunächst das von ihm mit einem Salzklumpen verglichene transzendentale Bewußtsein, seine Allverbreitung im Universum und sein Erscheinen in jedem empirischen Bewußtsein: "Mit diesem ist es wie mit einem Salzklumpen, der, ins Wasser geworfen, sich in dem Wasser auflöst, also daß es nicht möglich ist, ihn wieder herauszunehmen, woher man aber schöpfen mag, überall ist es salzig; - also, fürwahr, geschieht es auch, daß diese große, endlose, uferlose, aus lauter Erkenntnis bestehende Wesen aus diesen Elementen [Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther] sich erhebt und in sie wieder mit [dem Leibe] untergeht; nach dem Tode ist kein Bewußtsein, so, fürwahr, sage ich. - Also sprach Yajnavalkya. Da sprach Maitreyi: Damit, o Herr, hast du mich verwirrt, daß du sagst, nach dem Tode sei kein Bewußtsein. - Aber Yajnavalkya sprach: Nicht Verwirrung, wahrlich, rede ich; was ich gesagt, genügt zum Verständnis: denn wo eine Zweiheit gleichsam ist, da sieht einer den andern, ... da erkennt einer den ander; wo aber einem alles zum eigenen Selbste geworden ist, ... wie sollte er da irgendwen sehen, ... wie sollte er da irgendwen erkennen? Durch welchen er dieses alles erkennt, wie sollte er den erkennen, wie sollte er doch den Erkenner erkennen?" - Schon in dieser Vedastelle wird das vergängliche, empirische Bewußtsein von dem transzendentalen untererschieden, welches die ganze Welt trägt und darum unvergänglich ist, wie sie. Mehr oder weniger verwandte Vorstellungen sind: der Weltintellekt (der Hiranyagarbha) des Vedantasystems, der Mahan (des Buddhi) der Sankhyaphilosophie, Platons Weltseele, der nous der Neuplatoniker, der logos bei Philo und im Neuen Testamente, der Adam Kadmon der Kabbala, Der Intellectus infinitus Dei des Spinoza und vieles andere.

Doch wir wollen hier nicht Autoritäten zitieren, sondern Argumente vorbringen. Das transzendentale Bewußtsein ist raumlos und zeitlos und folglich unerkennbar. Wir können zwar begreifen, warum es unerkennbar ist, wir können es aber durch keine Bemühungen der Erkenntnis zugänglich machen, so wenig wie das Ding an sich, zu dem gehört, indem dieses sich zunächst in Bewußtsein und Empfindung als die Urelemente der Vorstellungswelt zerlegt und sodann aus dem Gegeneinanderarbeiten beider diese Welt erzeugt. Empirisch erscheint das Bewußtsein als Gehirn, die Empfindung als Affektion der Nervenenden; beide besagen nur, wie jene Urelemte in Raum und Zeit erscheinen, nicht, was sie an sich sind. Letzteres bleibt uns verschlossen. Was sich hinter dem empirischen Ding als Ding an sich und hinter den Gehirnfunktionen als das transzendentale Bewußtsein verbirgt, dieses beides, oder vielmehr die Einheit dieser beiden wird der intellektuellen Betrachtung jetzt und in aller Zukunft unzugänglich und ein ewiges Noli me tangere (Rühr mich nicht an.) bleiben. Aber wer wollte alle Dinge im Himmel und auf Erden erklären!

Gleichwohl wohnt uns das Verlangen inne, auch das Unerkennbare in die Sphäre der Erkenntnis herabzuziehen. Dies ist auch möglich, wenn wir uns zu einer bildlichen Darstellung entschließen. Das Bewußtsein ist raumlos. Diese uns unbegreifliche Raumlosigkeit erscheint in unserer räumlichen Anschauungsweise als Befreiung von allen räumlichen Schranken, d.h. als Allgegenwart. Ebenso erscheint seine Zeitlosigkeit als ein Beharren durch alle Zeiten. Also: das tranzendentale Bewußtsein, welches in dir, in mir, in allen erkennenden Wesen als jene Nervenschwingungen des Gehirns zur Erscheinung kommt, welches eines ist und doch in jedem von uns seinen Mittelpunkt hat, ist und bleibt raumlos und zeitlos und folglich unerkennbar; wollen wir es erkennen, so müssen wir es mit einem Bilde, welches hier die Wahrheit vertritt, uns vorstellen als allgegenwärtig durch die ganz Welt ausgegossen und als ewig dieselbe in allen ihren Evolutionen begleiten: psychäs peirata ouk an exeuroio, pasan epiporeuomenos hodon, houto bathyn logon echei. (Der Seele Grenzen kannst du [gehend] nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie. Heraklit, Fragment 45, Diogenes Laertius 9,7). -

Zurückkehrend von diesen bildlichen Vorstellungen auf den festen Boden der wissenschaftlichen betrachtungen, können wir vielleicht, ohne diese zu überschreiten, daran festhalten, daß Raum und Zeit nach Kants unwiderlegten Beweisen dem Bewußtsein anhaften, und daß mithin das transzendentale Bewußtsein durch das ewige Dasein von Raum und Zeit in seiner Realität verbürgt wird, so wenig wir diese Realität, da sie nur metaphysisch ist, zu begreifen vermögen.

Das transzendentale Bewußtsein trägt den Raum und die Zeit und mit ihnen die ganze in Raum und Zeit ausgebreitete Körperwelt schon ursprünglich und von je her in sich. Es bedarf daher auch nicht der Kausalität, um zu den Dingen zu gelangen, da es mit den Körpern zugleich auch alle kausalen Zusammenhänge in sich befaßt. Hingegen hat das empirische Bewußtsein als Gehirn und Nervenapparat sich nur an einem einzelnen Punkte des großen Kausalnetzes angesogen und kann von diesem als unmittelbarem Objekte nur mittels der Kausalität zu der übrigen Weltausbreitung gelangen. Dies erklärt vielleicht, warum Kant den von Schopenhauer mit so großem Nachdrucke für die Apriorität der Kausalität geführten Beweis ex antecessione (aus der Bedingung) für die Kausalität übersah oder absichtlich beiseite ließ, nachdem er doch für Raum und Zeit eben diesen Beweis als den wichtigsten vorangestellt hatte. Kant hat bei der Kausalität das transzendentale, Schopenhauer das empirische Bewußtsein im Auge, und so haben beide in ihrer Weise Recht.

Noch ein anderer Punkt der "Kritik der reinen Vernunft" dürfte hier seine Aufhellung finden. Jedem Leser des genannten Werkes wird ein eigentümliches Schwanken Kants aufgefallen sein in betreff der wichtigen Frage, was denn nun eigentlich, im Gegensatze zu unserem Intellekte und seinen angeborenen Formen, da a posteriori, d.h. unabhängig von uns Vorhandene, mit einem Worte: das Gegebene sei? Viele Stellen der Vernunftkritik treten dafür ein, daß auch nach Kant dieses Gegebene nie etwas anderes sein kann als die Empfindung. Daneben aber begegnen wir bei Kant immer wieder der Auffassung, daß die ganze und fertige Anschauung uns gegeben sei und von uns nur in Raum und Zeit gleichsam hineingeschoben und unter die Kategorien subsumiert werde. Für das empirische Bewußtsein ist nur die Empfindung, für das transzendentale die in ihm von je her fertig vorhandene Ausspannung der Körperwelt das Gegebene. Das erwähnte Schwanken Kants scheint zu beweisen, daß auch er schon, wenn auch nur dunkel und unsicher, das empirische und das transzendentale Bewußtsein unterschieden hat.

Wären dieses transzendentale und empirische Bewußtsein eine nebeneinander stehende Zweiheit, so könnten wir sagen: das transzendentale Bewußtsein erschaffe die Vorstellungswelt, das empirische schaffe nur nach, was schon geschaffen ist. Aber so steht es keineswegs. Denn es ist das eine und ewige transzendentale Bewußtsein selbst, welches als jedes empirische Bewußtsein zur Erscheinung kommt. Darum schafft jedes empirische Bewußtsein in jedem Augenblicke die Welt, und doch ergibt dies nicht viele Welten, sondern nur eine, welche auch ohne alle empirische Bewutseine bestehen würde, da sie alle nur Erscheinungsformen des einen und ewigen transzendentalen Bewußtseins sind.

Wir haben gesehen, wie durch die empirische Realität der Welt deren tranzentale Idealität nicht ausgeschlossen wird. Weiter aber können wir diesen kantischen Satz dahin ergänzen, daß diese transzendentale Idealität wiederum nicht ausschließt eine transzendente Realität der Welt und aller Dinge in ihr, das heißt eine Realität außerhalb des Bewußtseins und somit außerhalb aller möglichen Erfahrung. Wäre das Dasein der Dinge ganz vom empirischen Bewußtsein abhängig, so wäre sie bloße Phantome; wäre ihr Dasein ganz vom transzendentalen Bewußtsein abhängig, so wären sie bloße Erscheinungen. Dies sind sie auch ihrer räumlichen und zeitlichen Form nach; aber in dieser Form verbirgt sich ein raumloser und zeitloser und daher transzendenter Inhalt, welchen wir mit Platon und Kant das auto kath hauto, das Ding an sich nennen. Auf dieser an sich und unabhängig von unserm Bewußtsein bestehende Realität der Dinge beruhen alle Verschiedenheiten der Eindrücke, die wir empfangen, und somit alle qualitativen Unterschiede in der Natur. Auf dieser transzendenten Realität beruht es z.B., daß das eine Ding rund, das andere eckig, das eine rot, das andere blau erscheint; denn diese wie alle Verschiedenheiten der Dinge lassen sich aus dem Bewußtsein, welches allem als eines und dasselbe gegenübersteht, nicht ableiten, müssen also in einer den Dingen an sich zukommenden Realität begründet sein. Im übrigen kann unser Intellekt über diese Realität nicht das Mindeste aussagen; denn subjektiv ist die räumliche und zeitliche Ausbreitung der Dinge, subjektiv ist ihr Außereinandersein und ihr Nacheinandersein, subjektiv sogar ihre Unterscheidung als Objekte von dem Bewußtsein als Subjekt. Wie unter diesen Umständen die Verschiedenheiten der Natur in dem Dinge an sich wurzeln können, wie sie mit dessen raumloser und zeitloser, alle Vielheit ausschließender Beschaffenheit zusammenbestehen mögen, ist ein für das menschliche Denken unlösbares Problem, weil wir eben mit unserer Erkenntnis immer auf das Gebiet diesseits der Dinge an sich beschränkt bleiben. Von ihm aus erscheint das eine und unteilbare Ding an sich als die Vielheit der platonischen Ideen: diese sind, ähnlich wie da ihnen korrespondierende transzendentale Bewußtsein, für die Philosophie eine unentbehrliche Hilfkonstruktion, welche keinen andern Wert hat als den, ein für uns unfaßbares Verhältnis in die Sphäre der Erkenntnis herabzuziehen. Im übrigen ist die Realität der Dinge an sich eine tranzendente, welche daher (ebenso wie das erwähnte transzendentale Bewußtsein) für die Erkenntnis unzugänglich ist und ewig bleiben wird. Und doch bergen wir dieses letzte Geheimnis der Natur in unserm eigenen Innern, von wo aus es uns als Wille in der Sphäre des bewußten wie des unbewußten Lebens entgegentritt. Die Entdeckung des Willens als des Dinges an sich wird Schopenhauers Namen ebenso unsterblich machen, wie die Erkenntnis der Apriorität von Raum, Zeit und Kausalität den Namen Kants. Mehr noch als die kantische, ist die schopenhauersche Entdeckung Mißverständnissen und Mißdeutungen ausgesetzt gewesen; wer sie aber einmal in ihrer Tiefe begriffen, wer gelernt hat, den Willen vom Bewußtsein zu sondern und im unbewußten Willen die Triebkraft des eigenen Lebens wie der ganzen übrigen Natur zu erkennen, der wird nie wieder an dieser Erkenntnis irre werden. Gesetzt z.B., vor mir stehe ein Tier, so es es die höchste Interpretation seiner ganzen Erscheinung und eine Auffassung, in welcher alle seine Organe und Funktionen ohne Rest aufgehen, wenn ich mir sage: dieses Tier ist Wille, ist durch und durch nur Wille zum Leben, dessen Grundbestrebungen, Ernährung, Beschützung, Fortpflanzung und Sorge für die Brut sich im Raume zur Vielheit der Organe, und in der Zeit zur Vielheit der Lebensfunktionen ausbreiten. Nur die Mißverständnisse, welche sich an das Wort Wille knüpfen, erschweren dieser Erkenntnis den Eingang in die Kreise der Naturforschung; wer sie richtig gefaßt hat, für den wird sie ein Licht, welches die ganze Natur und alle ihre Erscheinungen durchleuchtet. Völlig haltlos und in nichts zusammenbrechend erscheinen dann Einwendungen wie die von Herbart und seinen Anhängern erhobene: wenn der Wille das Ding an sich sei, so könne er nicht erkennbar, wenn er erkennbar sei, so könne er nicht das Ding an sich sein. Wir antworten: der Wille ist das Ding an sich, und darum bleibt er auch unserer Erkenntnis jetzt und für alle Zukunft unzugänglich. Wir erkennen ihn nur, sofern er erscheint; er erscheint aber in jedem Menschen auf zweifache Weise: das eine Mal äußerlich als sein in Raum, Zeit und Kausalität sich ausbreitender Leib; das andere Mal in der inneren Wahrnehmung, wo die Bewegungen des Leibes und die Einwirkungen auf ihn jedem als Wollen zum Bewußtsein kommen. Dieses Wollen ist der Wille, auseinandergezogen in die Anschauungsform der Zeit. Von den drei Formen, Raum, Zeit und Kausalität, welche in der äußeren Erfahrung das Ding an sich verhüllen, werden in der inneren Erfahrung zwei abgestreift, und es bleibt nur die Zeit übrig, in welcher der Wille als Wollen erscheint; sie ist die einzige Scheidewand, welche uns bei der Innenbeobachtung vom Ding an sich trennt. Könnten wir von dem Wollen die Form der Zeit abstreifen, wie dies vielleicht nach Abschüttelung des Intellektes im Tode möglich ist, so würden wir noch eine ganz andere Seite der Sache gewahr werden anthropous menei teleutäsantas hassa ouk elpontai oude dokeousi, Heraklit (Die Menschen erwartet, wenn sie sterben, was sie weder erwarten noch annehmen, DIELS fragm. 27, Clemens Alex., strom. 4,144,3) wir würden dann nicht nur das Velle (Wollen), sondern auch das Nolle (Nicht-Wollen) erkennen, nicht nur die Bejahung des Willens zum Leben, deren Erscheinung diese ganze Welt ist, sondern auch die Verneinung, deren Erscheinung von den Religionen als das Reich Gottes, Himmelreich usw. mit irdischen Farben ausgeschmückt wird, für die philosophische Forschung aber ein unbetretbares Gebiet bleibt. Darum kann die Philosophie das höchste Ziel alles menschlichen Strebens, dem alle reine Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Entsagung, alle Tugend und Heiligkeit entgegenführt, immer nur negativ als die Verneinung des Willens zum Leben und dieser ganzen Welt, in der er erscheint, zum Ausdruck bringen, wiewohl an sich vielmehr die Bejahung des Willens als Sinnlichkeit, Feigheit, weichliche Genußsucht und kleinliches Kleben am eignen Ich das negative und verwerfliche, hingegen dasjenige, was wir im Anschluß an einen Ausspruch Jesu Verneinung nennen, die Quelle alles Heroismus, aller Tapferkeit, Ausdauer und uneigennützigen Arbeit, aller Treue und Lauterkeit der Gesinnung, und somit an sich nichts weniger als negativ, sondern vielmehr das wahrhaft Positive, Göttliche und Beseligende ist.

Kiel, im März 1902.

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Vorbemerkungen: Physik und Metaphysik

§ 1
Zwei Standpunkte und nicht mehr können wir einnehmen, um die Natur der Dinge zu erforschen: den empirischen und den transzendentalen.
Auf dem empirischen Standpunkte stehen wir, solange wir die Dinge in der Form auffassen, wie sie uns erscheinen, d.h., wie sie sich im menschlichen Erkenntnisvermögen abspiegeln; das Ergebnis ist die Physik (im weitern Sinne); vom transzendentalen Standpunkte aus fragen wir nach dem, was die Dinge an sich, d.h. unabhängig und abgesehen von unserm Erkenntnisvermögen, in dem sie sich darstellen sein mögen; das Ergebnis ist die Metaphysik.

§ 2
All unser Wissen hebt an von der Wahrnehmung, welche teils eine äußere, teils eine innere ist.
Aus beiden baut sich der gesamte Komplex unserer Vorstellungen von den Dingen auf, den wir Erfahrung nennen. Die empirische wie die transzendentale Betrachtungsweise gehen aus von der Erfahrung; aber sie tun es in verschiedenem Sinne.

§ 3
Die empirische oder physische Betrachtungsweise nimmt den gesamten Stoff der Erfahrung als gegeben auf, und indem sie ihn durchforscht und systematisch ordnet, gelangt sie zu einem System der Physik, welches alle Wissenschaften umfaßt, wie sie aus den beiden Quellen der äußern und innern Erfahrung entspringen.

Alles was wir durch die äußere Erfahrung kennen lernen, sind die Körper, d.i. die Materie, in Raum und Zeit. Die Verhältnisse des Raumes und der Zeit erforscht die Mathematik, die Materie in ihren Wandlungen zu verfolgen liegt den Naturwissenschaften ob, welche als Morphologie (Mineralogie, Botanik, Zoologie) die Gestalten der Materie, als Aitiologie (Physik, Chemie, Physiologie) die Veränderungen derselben nebst deren Ursachen betrachten. - Die Wissenschaft von der innern Erfahrung ist die (empirische) Psychologie. Da dieselbe sämtliche Phänomene der innern Wahrnehmung zum Gegenstande hat und demgemäß das ganze Gebiet des Erkennens, Empfindens und Wollens befaßt, so können wir ihr die Logik (nebst Grammatik), die Ästhetik und die Ethik unterordnen und denselben die Geschichte der Wissenschaften, der Künste und der Völker gewissermaßen als Beispielsammlungen zur Seite stellen.

§ 4
Die transzendentale oder metaphysische Betrachtungsweise hält an der Tatsache fest, daß der Gesamtkomplex der Erfahrung und des aus ihr herausgearbeiteten empirischen Wissens, welches das System der Physik ausmacht, zunächst und eigentlich nichts weiter ist als eine Reihe von Vorstellungen in unserm Bewußtsein. Demgemäß war von jeher ihre Grundfrage, was die Dinge an sich (auta kath hauta [als Begriff bereits seit den Pythagoräern: An-sich-sein], âtman), d.h. abgesehen von der Form, die sie in unserer Erkenntnis annehmen, sein mögen? Um es zu ermitteln, analysiert sie fürs erste die unsern Intellekt füllende Erfahrung und entscheidet, welcher Teil von ihr a priori, d.h. vor aller äußern und innern Wahrnehmung, uns einwohnt und somit zu den angeborenen Funktionen unseres Intellektes selber gehört, und welchen Teil von ihr wir erst a posteriori, d.h. vermittelst der äußern und innern Wahrnehmung, uns aneignen und demnach als zum Wesen der Dinge an sich gehörend zu betrachten haben. Die auf diesem Wege gewonnen Aufschlüsse nebst ihrer Anwendung auf die Natur, die Kunst und das Handeln der Menschen bilden zusammen ein System der Metaphysik, welches dem System der Physik ergänzend zur Seite tritt und die letzten uns erreichbaren Aufschlüsse über die Natur unser selbst und der Welt enthält.

Anmerkung: Unter dem Worte Philosophie, dessen Begrigg mit der Zeit vielfach gewechselt hat und noch heute schwankt, versteht man im engern Sinne die Metaphysik; im weitern Sinne die Metaphysik nebst den in naher Beziehung zu ihr stehenden Wissenschaften der innern Erfahrung; im weitesten Sinne die Hauptresultate sämtlicher Wissenschaften vom allgemeinsten Standpunkte aus.

§ 5

§ 6
Historisches. - Religion und Philosophie sind die beiden Formen, in denen die Metaphysik sich seit den ältesten Zeiten entwickelt und, besonders in der Indischen, Griechischen und Christlichen Welt, eine Fülle unvergänglicher Wahrheiten zutage gefördert hat. Aber bis vor hundert Jahren fehlte das klare Bewußtsein von dem Unterschiede physischer und metaphysischer Erkenntnisse, und indem die Metaphysik ihre Wahrheiten vom empirischen Standpunkte aus, auf welchem jeder von Natur steht, geltend machen wollte, hatten dieselben notwendigerweise eine bildliche Form und traten in scheinbaren Widerspruch untereinander und mit den physischen Wissenschaften.
Da kam Kant (1724-1804) und legte durch die "Kritik der reinen Vernunft" (1781) die Grundlagen zu einer vollkommen wissenschaftlichen Metaphysik. Auf diesem Grunde führte Schopenhauer (1788-1860) einen metaphysischen Bau ohnegleichen auf, der im einzelnen mit der Zeit durch den nie beendeten Fortschritt der empirischen Wissenschaften noch modifiziert werden mag, im ganzen aber nicht veralten kann und ein unverlierbarer Besitztum der Menschheit bleiben wird.

Wenn wir an der Hand dieser Lehre in den innern Geist der religiösen und philosophischen Systeme eindringen, so wird uns die Überzeugung, daß die prinzipiellen Gegensätze zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und Religion im letzten Grunde auf einem Mißverständnisse beruhen, welches gehoben werden kann und ein gegenseitiges Anerkennen der Berechtigung zur Folge haben wird.

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A. Der empirische Standpunkt
SYSTEM DER PHYSIK

I. Vom Raume

§ 7
Lehrsatz. Der Raum ist nach jeder Richtung hin unendlich.
Beweis. Wäre er es nicht, so müßte er eine Grenze haben. Diese wäre entweder ein Körper oder das Leere, in beiden Fällen also wieder ein Raum. (Vergl. das Beispiel vom Wurfspieß bei Lucretius, de natura rerum I,968-983.)

[Nimm, es wäre der Raum des Alls in Grenzen geschlossen:
Würde, wer sich zum äußersten Rand desselben erhübe
Einen beflügelten Pfeil von da zu werfen; obgleich er
Diesen mit angestrengeter Kraft fortschleuderte; würd' er
Solchen weiter hinaus, wohin er ihn sendete, treiben,
Oder würde zuletzt ihn etwas hindern und obstehn?
Eines oder das andere musst durchaus du bekennen:
Jegliches sperrt den Ausgang dir; und es zwingt zum Geständnis,
Dass ein unendliches All ohn' alle Schranken sich öffne.
Immer würde ja sonst der Wechsel bleiben: entweder,
Dass so ein Etwas sei, das den Pfeil zu fliegen verhindre.
Nicht zu gelangen dahin zu dem Ziel, nach dem er gesandt ward;
Oder auch, flog er hinan, so kam er vom äußersten Rand nicht.
Immer verfolg' ich dich so: wohin du das äußerste Ziel steckst,
Werd ich dich immer befragen, was sei aus dem Pfeile geworden ?
Bis du erkennest zuletzt, dass nirgends ein Ende bestehn kann,
Dass der unendliche Raum die Flucht nur immer erweitert.
(Quelle: Gottwein)
]

§ 8
Zusatz. Alles was existiert, existiert notwendigerweise im Raume; denn sonst wäre es nirgendwo und also überhaupt nicht.

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II. Von der Zeit

§ 9
Lehrsatz. Die Zeit ist nach beiden Richtungen unendlich.
Beweis. Wäre sie es nicht so müßte sie einen Anfang oder ein Ende haben. Beides wären Zeitpunkte ("Jetzt"), hätten als solche ein Vorher und Nachher und lägen mithin in der Zeit und nicht außer ihr.

§ 10
Zusatz. Alles was geschieht, geschieht notwendigerweise in der Zeit; denn sonst geschähe es niemals und also überhaupt nicht.

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III. Von der Materie

§11
Lehrsatz. In Raum und Zeit existiert nichts als die Materie allein.
Beweis. 1) Das Wirkende in Raum und Zeit heißt Materie. Existieren heißt in Raum und Zeit wirken. Folglich ist alles, was existiert, materiell. - 2) Möglich heißt dasjenige, was von uns als existierend vorgestellt werden kann. Nur materielle Objekte können von uns als existierend vorgestellt werden. Folglich kann es nichts anderes geben als materielle Objekte.

§ 12
Lehrsatz. Die Materie ist unerschaffbar und unvernichtbar.
Der Beweis folgt nicht sowohl aus den Experimenten der Naturforscher, als welche, selbst wenn es möglich wäre, die Materie in ihren Umwandlungen mit der Wage in der Hand zu verfolgen, doch nur besagen würden, daß es uns bis jetzt noch nicht gelungen ist, das Quantum der Materie zu vermehren oder zu vermindern, sondern vielmehr abgesehen von aller Wahrnehmung (a priori) daraus, daß es unmöglich ist, ein Entstehen oder Vergehen der Materie auch nur vorzustellen. Was aber nicht möglich ist, das ist auch nicht wirklich.

§ 13
Der Vorrat an Materie in der Welt ist entweder unbegrenzt und folglich unendlich groß, entsprechend dem unendlichen Raume, oder begrenzt und dann, im Vergleich zum unendlichen Raume, unendlich klein.

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IV Von der Kausalität

§ 14
Die Substanz beharrt (§ 12), aber sie verändert unaufhörlich ihre Eigenschaften, Formen und Zustände (panta rhei [Heraklit: Alles fließt]). Alle diese Veränderungen geschehen mit Notwendigkeit nach folgendem Gesetze.

§ 15
Gesetz der Kausalität: Jede Veränderung an der Materie heißt Wirkung und findet nur statt, nachdem ihr eine andere Veränderung, Ursache genannt, vorhergegangen ist, auf welche die Wirkung regelmäßig und unausbleiblich, das heißt notwendigerweise erfolgt.

§16
Sofern die Wirkung nur dadurch möglich ist, daß die vorhergehende (Ursache genannte) Veränderung an einem bestimmten Zustande vorgeht, der selber ein Resultat von Veränderungen ist, begreift man im weitern Sinne diesen Zustand nebst der zuletzt hinzugetretenen Veränderung unter dem Namen Ursache und unterscheidet in ihr die verschiedenen ursächlichen Momente oder Bedingungen; die Reihenfolge derselben kann in machen Fällen wechseln.

§ 17
Dieselbe Ursache hat allemal dieselbe Wirkung, hingegen kann dieselbe Wirkung aus verschiedenen Ursachen erfolgen. Hieraus folgt, daß der Übergang von der Wirkung auf die Ursache problematisch, der von der Ursache auf die Wirkung sicher ist. Ersteres ist der Weg der Hypothese, letzteres der des Experimentes.

§ 18
Unmittelbar aus dem Kausalitätsgesetz folgen: 1) das Trägheitsgesetz, da, wo keine Ursache statthat, auch keine Wirkung erfolgen kann; 2) das Gesetz vom Beharren der Substanz (§ 12), da das Kausalitätsgesetz nur auf die Zustände der Materie, nicht aber auf das Substrat aller Zustände, Formen und Eigenschaften Anwendung hat.

§ 19
Wie der Raum (§ 7) und die Zeit (§ 9) ohne Grenzen sind, so ist auch das Netz der Kausalität notwendigerweise anfanglos und endlos.
Beweis. a) Wäre es nicht anfanglos, so müßten wir einen ersten Zustand annehmen; damit derselbe sich fortentwickeln konnte, mußte an ihm eine Veränderung eintreten, welche ihrerseit wieder die Wirkung einer vorhergehenden Ursache war, usw.

Anmerkung: Hieran scheitert der kosmologische Beweis, welcher das metaphysische Prinzip der Welterlösung (Gott) irrtümlich zum physischen Prinzip der Weltschöpfung macht.

b) Endlos ist die Herrschaft der Kausalität, sofern in keiner Zukunft eine Veränderung jemals eintreten kann, welche nicht als Wirkung aus ihrer zureichenden Ursache hervorginge.

§ 20
Man unterscheidet drei Formen der Kausalität, eine allgemeine und zwei besondere, je nachdem die Wirkung erfolgt auf eine Ursache im engern Sinne auf einen Reiz oder ein Motiv.

1) Auf die Ursache im engern Sinne erfolgen alle Veränderungen mit Ausnahme der organischen. Mit dem Grade der Ursache steigt auch der Grad der Wirkung. Die Ursache erfährt eine gleich große Veränderung wie die ist, welche sie der Wirkung mitteilt (Wirkung und Gegenwirkung sind gleich).

2) Auf Reize erfolgen die Veränderungen im vegetativen Leben (in der Pflanzenwelt und dem vegetativen Teile des Tier- und Menschenlebens); diese Form erfordert, um zu wirken, Dauer und Kontakt, häufig Intussuszeption. Durch Steigerung der Ursache schlägt die Wirkung oft in ihr Gegenteil um (Überreizung).

[Intussusception (nlt.), innere Aufnahme und Verschmelzung der Stoffe, heißt das charakteristische Wachstum des Organismus, während Juxtaposition, d.h. Nebeneinanderlagerung, das Wachstum der mechanischen Gebilde bezeichnet. In der Botanik nennt man Intussusception (seit Nägeli [1817 bis 1891]) das Einrücken neuer Wandbestandteile der Zellen zwischen bereite vorhandene in Lücken, welche dadurch entstehen, daß sich die Zellwand beim Wachstum der Zelle dehnt, während Apposition die Anlagerung neuer Schichten aus dem Protoplasma an die Zellwand ist. (Siehe Migula, Morphologie, Anatomie und Physiologie der Pflanzen, 1902, S. 69.)
[Kirchner/Michaelis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Geschichte der Philosophie, S. 12064 (vgl. Kirchner/Michaelis, S. 294)]

3) Auf Motive erfolgen die Veränderungen im Tierreich und Menschenleben, soweit sie unter der Herrschaft der animalischen Funktionen stehen, d.h. die willkürlichen Bewegungen. Die Ursache in dieser Form bedarf weder des unmittelbaren Kontaktes noch einer mehr als momentanen Dauer. Da der Intellekt des Tieres auf anschauliche Vorstellungen beschränkt ist, so ist sein Handeln durchweg an anschauliche (in der Gegenwart liegende) Motive gebunden, während das Handeln des Menschen auch auf abstrakte Vorstellungen, die als Motive wirken, erfolgen kann, wodurch sein Tun oft rätselhaft und unergründliche, nie aber frei von der Notwendigkeit ist, mit der das Kausalitätsgesetz alles Endliche beherrscht (empirische Unfreiheit des Willens).

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V. Von den Naturkräften

§ 21
Die Gesetze des Raumes und der Zeit, deren Ermittlung der Mathematik obliegt, sowie das Gesetz der Kausalität sind, wie später zu beweisen sein wird Naturgesetze a priori. Ihnen gegenüber stehen die aus der Wahrnehmung durch Induktion gewonnenen Naturgesetze a posteriori, welche nichts anderes sind als der auf Regeln gebrachte Ausdruck für das konstante Wirken der Naturkräfte.

§ 22
Alles was die empirische Naturbetrachtung uns kennen lehrt, sind Erscheinungen (d.h. Zustände und Veränderungen der Materie) in Raum und Zeit, zusammengehalten durch das Band der Kausalität. Alle Erscheinungen der Natur zerfallen in eine Rehe von Gruppen, deren jede gebildet wird durch sämtliche Erscheinungen, welche einen gemeinsamen Charakter an sich tragen und demzufolge als mannigfaltige Äußerungen eines einheitlichen Innern aufgefaßt werden.
Dieses Innere wird mit einem aus der Beobachtung unseres eignen Innern entlehnten Ausdrucke Kraft, Naturkraft benannt. (Beispiele: Schwere, Undurchdringlichkeit, Elektrizität, Kristallisation, sowie jede Spezies des Pflanzen- und Tiereichs.) Jeder Zustand in der Natur ist eine Spannung sich bekämpfender Naturkräfte, jede Veränderung ist eine zeitweilige Überwältigung gewisser Kräfte durch andere, welche, am Leitfaden der Kausalität, die stärkeren geworden sind. (polemos pater panton. [Heraklit: Der Kampf/Krieg ist der Vater aller Dinge] - Beispiele: Ein Gebäude, eine chemische Verbindung, der menschliche Leib im Zustande der Gesundheit, der Krankheit, des Todes.)

§ 23
Zum Ganzen der Natur gehören sämtliche Äußerungen der Naturkräfte, nicht aber die Naturkräfte selbst. Empirisch betrachtet existieren sie gar nicht, und indem der Naturforscher gleichwohl sich ihrer nicht entschlagen kann, ohne doch je über etwas anderes als ihre Äußerungen Aufschluß geben zu können, deutet er die Notwendigkeit eines Verfahrens an, welches das seinige ergänzt und in den Bereich der Metaphysik gehört.

§ 24
Sonach ist jedes Ereignis, gleichviel ob Ursache oder Wirkung, die Äußerung einer Kraft, und das Gesetz der Kausalität besagt nur, daß keine Kraftäußerung eintreten kann, ohne daß ihr eine andere Kraftäußerung als Ursache vorhergegangen wäre.

Es ist daher ungenau und zu rügen, wenn man als Ursache einer bestimmten Wirkung die Kraft selbst bezeichnet (z.B. als Ursache des Falles die Schwere).

§25
Die Aufgabe der empirischen Wissenschaften ist demnach dreifach:

  1. Beobachtung und Beschreibung der Erscheinungen,
  2. Ermittlung ihrer jedesmaligen Ursachen,
  3. Bestimmung der in denselben hervortretenden Kräfte.

Diese Aufgaben liegen nicht allein dem Naturforscher ob, sondern auch dem Historiker, sofern derselbe 1) die Tatsachen erforscht und erzählt, 2) die Motive zu jeder Tat untersucht, 3) die in den Taten vermöge der Motive zur Erscheinung kommenden menschlichen Charaktere schildert.

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VI. Der Materialismus als Konsequenz der empirischen Weltanschauung

§ 26
Da für die empirische Weltanschauung nichts anderes existiert als die Materie in ihren mannigfachen Zuständen (§§ 11. 14), so muß alles Existierende sich begreifen lassen als Modifikation der Materie. Hiervon kann der Intellekt des Menschen um so weniger eine Ausnahme machen, als sich seine Betrachtung von der des tierischen Intellektes nicht trennen läßt. Der tierische Intellekt nun ist ein durch Anhäufung von Nervenstoff überaus empfindliches Organ, Verstand genannt, welches infolge der auf seine Ausläufer, die Sinne, geübten äußern Reize eine Reaktion vollzieht, vermöge deren, wie im folgenden des nähern nachgewiesen werden soll, die Anschauung der Außenwelt entsteht. Der menschliche Intellekt aber ist nichts als eine Steigerung des tierischen bis zu einem solchen Grade von Besonnenheit, daß wir imstande sind, die Anschauung in ihre Elemente zu zerlegen und diese Elemente in veränderter Anordnung festzuhalten, woraus, wie gleichfalls später zu zeigen ist, der Apparat der Vernunft mit seinem Inhalte an Begriffen und Urteilen hervorgeht.

§ 27
Der Anatomie und Physiologie liegt es ob, die Materialität aller intellektuellen Vorgänge nicht sowohl zu beweisen, denn sie steht a priori fest (§ 26), als vielmehr im einzelnen nachzuweisen. Wenn ihr auch dies, bei der Unzugänglichkeit des Denkorgans, bisher nur teilweise gelungen ist, so stehen ihr doch eine Reihe von Tatsachen zu Gebote, welche die völlige Abhängigkeit des Denkens vom Gehirn außer Frage stellen. Dahin gehören die Erscheinungen in der Kindheit und in hohem Alter, bei ungewöhnlicher Entwicklung und bei Mißbildung des Gehirns (Mikrokephalen, Kretins), bei Affektionen des Gehirns durch äußere Verletzungen oder innere krankhafte Einflüsse, die Wahnsinn verursachen; wobei das Gehirn periodenweise freigegeben werden kann (lucidia intervalla), auch oft infolge allgemeiner Erschöpfung beim Herannahen des Todes der bisherigen Hemmnisse ledig wird und zu seinen normalen Funktionen zurückkehrt (Don Quijote).

§ 28
Der von Cartesius ausgebildete, von seinen Nachfolgern modifizierte, umgeformte, bekämpfte, von Kant widerlegte, aber noch heute als populäre Anschauung herrschende Spiritualismus, demzufolge es zwei Substanzen gäbe, eine ausgedehnte und eine denkende, die im Menschen als Leib und Seele miteinander verbunden wäre und sich beim Tode trennten, ist ein von Erfahrung, Begreiflichkeit und Beweisen gleich sehr verlassener, jeder echten philosophischen Auffassung den Weg verbauender Grundirrtum.

Anmerkung. Kants Widerlegungen beruhen im wesentlichen darauf, daß die Existenz nur die allgemeine Form der Objekte ist, unter der wir daher nicht auffassen dürfen, was bei allen unsern Vorstellungen nur Subjekt ist, ohne je Objekt zu werden.

VII. Trostlosigkeit der empirischen Weltanschuung

§ 29
So gewiß der Materialismus allem Tiefsten und Höchsten in Philosophie und Religion Hohn spricht, so gewiß seine Konsequenzen auf dem Gebiete der Kunst platt und gemein, auf dem der Moral heillos, trostlos und ruchlos sind, - ebenso gewiß bleibt es, daß er auf empirischem Standpunkte die allein richtige und konsequenteste Weltanschuung und somit "das Ideal" ist, welchem die empirischen Wissenschaften zustreben und welches sie mit der Zeit mehr und mehr erreichen werden. Daher es verlorene Mühe ist, den Materialismus widerlegen zu wollen. Wohl aber fragt sich, ob es nicht möglich ist, ihn zu ergänzen durch eine höhere Weltansicht, welche ihn aufhebt, ohne mit ihm in Widerspruch zu treten.

§ 30
Schwer lastet auf unserm Gemüte der Druck einer Welt, in der für Gott, Freiheit und Unsterblicheit kein Platz übrig bleibt. - Dank sei daher durch alle Jahrhunderte den Männern, welchen es gelang, diese ganze Welt aus den Angeln zu heben nachdem sie das dos moi pou sto (eigentl. dos moi pou sto kai kino tän gän; Archimedes: gib mir einen Punkt, wo ich stehen kann und ich bewege die Erde) in unserm eigenen Erkenntnisvermögen fanden.
So tatsächlich nämlich auch die physischen Wissenschaften zu Werke gehen, so überspringen sie doch, ihrer Natur gemäß, eine Tatsache, welche unter allen die erste und gewisseste ist. Mit ihr haben wir uns jetzt zu beschäftigen.

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B. Der transzendetale Standpunkt
SYSTEM DER METAPHYSIK

Des Systems der Metaphysik erster Teil:

Die Theorie des Erkennens

I. Vorläufige Übersicht

§ 31
Die Theorie des Erkennens ist eigentlich ein Teil der Psychologie und handelt als solcher vom Ursprunge, Wesen und Zusammenhange aller unserer Vorstellungen. Dieselben zerfallen in zwei Klasse, sofern sie teils ursprünglich, teils abgeleitet sind. Erstere heißen (mittels denominatio a potiori [Benennung nach dem Vorzüglicheren]) anschauliche, letztere abstrakte Vorstellungen.

§ 32
Das Vermögen der anschaulichen Vorstellungen ist der Verstand (nous, mens, entendement, understanding); die Wissenschaft von demselben heißt Noetik. Sie hat nachzuweisen, wie der Verstand, vermöge seiner angeborenen Funktionen, zufolge des auf seine Ausläufer, die Sinne, einwirkenden äußern Reizes, 1) die anschaulichen Vorstellungen hervorbring, 2) den Zusammenhang derselben untereinander erforscht.

§ 33
Das Vermögen der abstrakten Vorstellungen ist die Vernunft (logos, ratio, raison, reason); die Wissenschaft, welche lehrt wie die Vernunft den von der Anschauung gelieferten Stoff zu Begriffen verarbeitet und dieselben zu Urteilen und Schlüssen verbindet, ist die Logik. Das Operieren mit Begriffen heißt Denken. Die äußern Lufterschütterungen, durch die wir unsere Gedanken einander mitteilen, sin die Worte der Sprache. Weil wir sie nicht bloß, wie die Tiere, hören, sondern auch vernehmen, wird das gesamte sich in ihnen äußernde Vermögen Vernunft genannt.

§ 34
Das Vermögen des Verstandes ist uns mit den Tieren gemein. Kein Tier ist ohne Verstand, wiewohl die niedern Tiere, zumal da, wo die Nervenmasse noch nicht zu einem Gehirne zentralisiert ist, nur einen äußerst schachen Anflug davon haben. Von ihnen anfangend steigert er sich mit der Entwicklung des Gehirns gradweise bis zum Menschen; auf dieser seiner höchsten Stufe erreichen die Funktionen des Verstandes einen Grad der Penetration [(lat. penetrare: eindringen, durchdringen], welcher nicht allein, wie bei den Tieren hinreicht, um die Anschauung der Außenwelt zu schaffen, sondern auch imstande ist, den räumlichen, zeitlichen, kausalen Zusammenhang derselben bis in seine entferntesten Verzweigungen zu verfolgen.
Das einzige Vermögen, welches den Menschen vom Tiere unterscheidet, ist die Vernunft. So einfach ihre Funktionen auch sind, so reichen sie doch hin, um alles das Große und Schöne zu erklären, welches das menschliche Leben vor dem Tiere auszeichnet.

§ 35
Dasselbe Organ, welches für die innere Betrachtungsweise der Psychologie als Verstand erscheint, stellt sich von außen gesehen in Physiologie dar als Gehirn (bei den untersten Tieren vertreten durch Nervenknoten oder Nervenringe), welches die in den Sinnesorganen auslaufenden sensibeln Nervenenden gleichsam als Fühlhörner den Dingen entgegenstreckt.
Hingegen ist die Vernunft, wie es scheint, nicht ein besonderes physiologisches Organ; vielmehr halten wir dieselbe (aus später beizubringenden Gründen) nur für eine spezifische, dem Menschen allein eigene Anwendungsweise des einheitlichen Reaktionsvermögens, welches wir Verstand, d.i. Gehirn nennen.

§ 35
Die Vernunft schöpft, wie später nachzuweisen sein wird, ihren ganzen Inhalt aus der Anschauung, und ihre Tätigkeit beschränkt sich darauf, daß sie dem von der anschaulichen Erkenntnis gelieferten Stoffe eine andere, leichter zu übersehende und daher bequemer zu handhabende Form gibt; daher lehrt sie uns eigentlich nichts Neues kennen, und jeder wirkliche Fortschritt in Physik wie Metaphysik ist dadurch bedingt, daß wir vor allem von den abstrakten Vorstellungen zurückgehen auf die ihnen zugrunde liegende anschauliche Welt. Demnach könnte die Metaphysik die Betrachtung der Vernunft und ihres abstrakten Inhaltes der Logik anheimstellen und sich aller Untersuchungen auf diesem gebiete entheben, wäre nicht die mangelhafte Kenntnis gerade deses Vermögens und seiner Tragweite in alter und neuer Zeit eine Quelle der schwersten Verirrungen auf dem Gebiete der Metaphysik geworden. Um uns vor diesen zu schützen, werden wir anhangweise die Vernunft und ihre abstrakten Vorstellungen in Betracht zu ziehen haben. Fürs erste aber lassen wir diese sekundäre Erkenntnisweise ganz außer acht und wenden uns der allein ursprünglichen, alles Reale befassenden Welt der anschaulichen Vorstellungen zu. - Auf ihrem Gebiete liegt das schwere Problem, dessen Lösung der Ausgangspunkt und die Grundlage aller wissenschaftlichen Metaphysik bleiben wird.

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II. Das Problem der anschaulichen Erkenntnis

§ 37
Wie ist es möglich, daß ich die Gegenstände der Außenwelt durch die Sinne wahrnehme? -
Die physische Erklärungsweise, daß die Dinge teils unmittelbar, teils vermittelst Lichtstrahlen, Schallwellen usw. meine Nerven und durch sie mein Gehirn affizieren, würde vielleicht genügen, wenn es sich darum handelte zu erklären, daß ich bei der Wahrnehmung innerhalb meines Organismus gewisse spezifische Empfindungen hätte. Dies ist aber beim normalen Wahrnehmen in der Regel gar nicht der Fall. Nicht subjektive Eindrücke treten dabei in mein Bewußtsein, sondern sofort und unmittelbar die außer mir liegenden Gegenstände und Vorgänge selbst. So empfinde ich z.B. beim Sehen nicht etwa das im Auge auf der Netzhaut und noch dazu umgekehrt stehende Abbild der Gegenstände, sondern ich sehe die Dinge selbst und doch außerhalb meiner. Nicht Lichtstrahlen, nicht subjektive Spiegelbilder treten in mein Bewußtsein, sondern ganz unmittelbar die Objekte, die doch fern von mir sind. Dies ist der Tatbestand, und in ihm liegt ein Widerspruch. -

Keine physische Erklärung vermag ihn zu heben.

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III. Die Welt ist meine Vorstellung

§ 38
Wenn ich, um dieser Perplexität mich zu entwinden, danach forsche, was denn eigentlich von allen meinen Erkenntnissen schlechthin und unumstößlich gewiß ist, so fange ich am besten damit an, wie Cartesius tat, an allem zu zweifeln. Wenn ich nun nicht nur alles Erlernte und Überlieferte bezweifele, sondern sogar die Frage aufwerfe, ob die Welt, welche mich sichtbar und greifbar umgibt, auch wirklich existiert, ob sie nicht vielleicht ein bloßer Traum meiner Einbildung, ein täuschendes Trugbild meiner Sinne ist, - so gibt es doch eine Wahrheit, an der ich nicht zweifeln kann; sie heißt:
Die Welt ist meine Vorstellung.
Cartesius ging zu weit, wenn er (dem Anscheine nach) durch sein berühmtes "Cogito, ergo sum" [Ich denke, also bin ich] das unzweifelhaft Gewisse auf abstrakte Vorstellungen einschränken wollte. Denn daß die Welt, mag sie an sich sein was sie will, mir als eine Reihe anschaulicher Vorstellungen gegeben ist, dies ist eine Ur-Tatsache, deren ich mich nie entschlagen, die ich auch nicht ernstlich bezweifeln kann.

§ 39
Auf diese Tatsache ist nun aber auch alle unzweifelhafte Gewißheit beschränkt, und unsere Reife für die philosophische Weltbetrachtung hängt davon ab, ob wir uns so weit auf uns selbst besinnen können, daß wir es zu einem wirklichen und aufrichtigen Verständnisse der großen Wahrheit bringen:

diese ganze materielle, in Raum und Zeit ausgebreitete Welt ist mir als solche nur durch mein Intellekt bekannt; nun kann mir mein Intellekt seiner Natur nach nie etwas anderes liefern als Vorstellungen; folglich ist diese ganze Welt, und mit ihr sogar mein eigener Leib, sofern ich ihn durch meinen Intellekt, das heißt von außen auffasse, nichts weiter als meine Vorstellung.

§ 40
So unwiderleglich diese Wahrheit ist, so stark ist das Widerstreben, das wir gegen sie empfingen. Dasselbe wird sich steigern, wenn wir bedenken, daß auch die schmerzlichsten Verletzungen unseres eignen Leibes für unsern Intellekt nichts weiter als Vorstellungen sind; gerade so gut wie die Verletzungen und Schmerzen, von denen wir andere gequält sehen. - Ständen wir den Dingen als körperlose, reine Intelligenz gegenüber, so würden wir an der obigen Wahrheit nicht den mindesten Anstoß nehmen. Die ganz Welt würde als eine Reihe bedeutungsloser, leerer Bilder an uns vorüberziehen, den Erscheinungen eines Traumes, in dem wir bloß Zuschauer und nicht Mitspieler sind, verleichbar. - Jetzt aber ist es anders. Denn wir berühren uns mit der Welt von zwei Seiten; einerseits mittelbar, durch unsern Intellekt, sofern wir sie erkennen; anderseits unmittelbar, sofern wir, vermöge unserer Leiblichkeit, selber zu ihr gehören. Was in letzterem Sinne wir und die Dinge der Welt sind, davon wird später die Rede sein. Hier aber müssen wir davon absehen, wo es sich darum handelt, die Welt als materiell in Raum und Zeit zu analysieren; denn in dieser Form ist die Welt uns nur durch unsern Intellekt bekannt und folglich nur unsere Vorstellung.

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IV. Ob die Dinge an sich ebenso sind, wie ich sie vorstelle?

§ 41
Die Welt ist meine Vorstellung. Als solche ist sie zunächst nur die Form, in welcher die Dinge mir erscheinen. Nun fragt sich, ob die Dinge an sich ebenso sind, wie ich sie vorstelle, nämlich materiell im Raume und in der Zeit, oder ob sie in dieser Form nur für meinen Intellekt da sind, indem derselbe, zufolge seiner Beschaffenheit, nicht imstande ist, das wahre und eigentliche Sein der Dinge zu offenbaren.. Ersteres behauptet der Materialismus, letzteres predigen uns rätselhafte Stimmen aus er Vorzeit. Indische Weise lehren, daß die Wurzel, aus der diese wechselvolle Welt emporsprieße, das Nichtwissen (avidya) sei, ja sie erklären diese ganze Welt für ein täuschendes Blendwerk (maya); griechische Philosophen (Parmenides, Platon u.a.) klagen die Sinne an, daß sie uns betrögen; und das Christentum leitet aus der moralischen Verderbtheit der Menschen eine Verfinsterung ihres Intellektes her (iskotismenoi tä dianoia ontes [Ihr Sinn ist verfinstert.], Eph. 4,18; man lese besonders 1 Kor 2*). In allen diesen wunderlichen Wendungen spricht sich das Bewußtsein aus, daß die Dinge an sich anders seien, als sie uns erscheinen.
Nur eine Analysis unseres Erkenntnisvermögens kann uns die Mittel an die Hand geben, diese Frage zu entscheiden.

[*1Kor 2,1 Und ich, als ich zu euch kam, Brüder, kam nicht, um euch mit Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit das Geheimnis Gottes zu verkündigen.
1Kor 2,2 Denn ich nahm mir vor, nichts anderes unter euch zu wissen, als nur Jesus Christus, und {ihn} als gekreuzigt.
1Kor 2,3 Und ich war bei euch in Schwachheit und mit Furcht und in vielem Zittern;
1Kor 2,4 und meine Rede und meine Predigt <bestand> nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft,
1Kor 2,5 damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft beruhe.
1Kor 2,6 Wir reden aber Weisheit unter den Vollkommenen, jedoch nicht Weisheit dieses Zeitalters, auch nicht der Fürsten dieses Zeitalters, die zunichte werden,
1Kor 2,7 sondern wir reden Gottes Weisheit in einem Geheimnis, die verborgene, die Gott vorherbestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu unserer Herrlichkeit.
1Kor 2,8 Keiner von den Fürsten dieses Zeitalters hat sie erkannt - denn wenn sie <sie> erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben -
1Kor 2,9 sondern wie geschrieben steht: «Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.»
1Kor 2,10 Uns aber hat Gott es geoffenbart durch den Geist, denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes.
1Kor 2,11 Denn wer von den Menschen weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? So hat auch niemand erkannt, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes.
1Kor 2,12 {Wir} aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, damit wir die <Dinge> kennen, die uns von Gott geschenkt sind.
1Kor 2,13 Davon reden wir auch, nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in <Worten>, gelehrt durch den Geist, indem wir Geistliches durch Geistliches deuten.
1Kor 2,14 Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird.
1Kor 2,15 Der geistliche dagegen beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemand beurteilt.
1Kor 2,16 Denn «wer hat den Sinn des Herrn erkannt, daß er ihn unterweisen könnte?» {Wir} aber haben Christi Sinn.]

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V. Elemente der Vorstellung a priori und a posteriori

§ 42
Jede Vorstellung enthält als solche zwei sich ergänzende Hälften, ein vorstellendes Subjekt und ein vorgestelltes Objekt. Diese beiden machen mit der Vorstellung nicht drei (wie Schiller ohne Grund spottet), sondern eins. Keine Vorstellung ist ohne Subjekt, keine ohne Objekt. Nun gibt es nichts für mich als Vorstellungen (§ 39): folglich auch kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt - eine Wahrheit, die schon Platon (Theaetet p.160 AB) in seiner Weise ausspricht.

[SOKRATES: Notwendig also muß sowohl ich, wenn ich ein Wahrnehmender werde, es von etwas werden, denn ein Wahrnehmender zwar, aber ein nichts Wahrnehmender zu werden, das ist unmöglich; als auch jenes muß, wenn es süß oder bitter oder etwas dergleichen wird, es notwendig für einen werden. Denn süß, aber niemanden süß zu sein, ist unmöglich.
THEAITETOS: Allerdings muß es so sein.
SOKRATES: Es bleibt also, glaube ich, übrig, daß wir füreinander etwas sind oder werden, je nachdem man nun sein oder werden sagen will, da unser Sein zwar die Notwendigkeit verknüpft, aber weder mit irgendeinem andern noch mit uns selbst. Also bleibt übrig, daß es für uns untereinander verknüpft sei. So daß, mag es nun jemand Sein nennen, er sagen muß, es sei für etwas oder von etwas, oder in Beziehung auf etwas; oder nenne er es Werden, dann ebenso. Daß aber etwas an und für sich etwas, gleichviel ob sei oder werde, das darf er weder selbst behaupten, noch wenn ein anderer dies behauptet, es annehmen, wie die Rede, welche wir durchgegangen sind, zeigt. Theaetet p.160 AB]

§ 43
Alle Objekte meines Subjekts sind es entweder unmittelbar oder mittelbar. Als unmittelbare Objekte kann ich nie etwas anderes haben als Affektionen meines Ich, d.h. Empfindungen in meinem Innern, welche sich physiologisch darstellen als gewisse spezifische Reize der in meinen Sinnesorganen ausgebreiteten sensibeln Nerven. Alle andern Objekte, die ganze Außenwelt, und sogar mein eigener Leib, sofern ich ihn von außen auffasse, sind mir nur als mittelbare Objekte bekannt: nur vermittelst jener Nervenreize kann ich zu ihnen gelangen.

§ 44
Somit beschränken sich alle Data, durch die ich zur Kenntnis der Außenwelt gelange, auf jene als unmittelbare Objekte gegebenen Affektionen meiner Nerven. Sie sind das Einzige, was meinem Intellekt von außen, d.h. unabhängig von ihm selber, kommt. Folglich muß alles ander, alles was die weite, vor meinen Blicken sich ausbreitende Natur mit ihrem unermeßlichen Inhalte von jenen dürftigen Nervenaffektionen unterscheidet, von innen, das heißt aus meinem Intellekte selbst stammen.

§ 45
Vergleichen wir die anschauliche Welt, die unsere Vorstellung ist, mit einem Gewebe, in welchem sich subjektive und objektive Fäden als Kette und Einschlag durchkreuzen: so ist alles Objektive, von mir Unabhängige, a posteriori Gegebene auf jene Affektionen meiner Nervenenden beschränkt und dem dünnen, vereinzelten Faden des Weberschiffleins vergleichbar; die Kette hingegen, welche vorher d.i. a priori ausgespannt ist, um jenen nach und nach einzuführenden Faden aufzunehmen und zum Gewebe zu verarbeiten, sind die natürlichen, angeborenen Formen des Subjektes, deren Komplex eben das ausmacht, was wir Verstand d.i. Gehirn nennen.

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VI. Leitfaden zur Auffindung der Elemente a priori in meinen Vorstellungen

§ 46
Die Aufgabe der Metaphysik besteht darin, zu erforschen, was die Dinge an sich, d.h. unabhängig von unserm Intellekte sind (§ 4); sie muß daher vor allem von den Dingen dasjenige in Abzug bringen, was unser Intellekt in sie hineinträgt, nämlich seine ihm von Hause aus d.i. a priori anhaftenden Formen, in die er allen ihm von außen gegebenen Stoff einreicht und zur Erfahrung verwebt. Folgende sechs Kennzeichen können dazu dienen, diese a priori als Funktionen des Verstandes in uns liegenden Elemente der Anschauung von den a posteriori durch die Wahrnehmung hinzukommenden zu unterscheiden. Sie sind für uns, was für den Chemiker die Reagentien sind; auch lassen sie sich ansehen als sechs Magnetsteine, mittels derer wir das Eisen unserer Erkenntnis a priori aus dem Gemenge der Erfahrung herausziehen.

1) Was zur Umwandlung der Affektion gegebenen Wahrnehmung in Anschauung erforderlich ist und somit aller Erfahrung als Bedingung der Möglichkeit derselben vorhergeht, kann nicht aus der Erfahrung, sondern nur aus unserm Innern stammen (argumentum ex antecessione).

2)Alles von außen Kommende verhält sich zu meinem Intellekte als zufällig, könnte auch anders sein oder gar nicht sein; das heißt, ich kann mir vorstellen, daß es nicht wäre. Nun enthält meine Anschauung Elemente, die ich nicht wie alles andere wegdenken kann; woraus folgt, daß sie eben nicht zu dem unabhängig von mir Bestehenden gehören, sondern meinem Intellekte anhaften (argumentum ex adhaesione).

3) Auf demselben Grunde beruht es, daß alle mir von außen gegebenen Data nur dazu hinreichen, mir zu sagen, was da sei, nicht aber, daß etwas notwendig so und nicht anders sei. Wahrnehmung hat keine Zunge um das Wort Notwendigkeit auszusprechen. Mithin können alle Bestimmungen der Dinge, mit denen ich das Bewußtsein der Notwendigkeit derselben verbinde, nicht aus der Wahrnehmung stammen, sondern müssen a priori in meinem Innern liegen (argumentum e necessitate).

4) Hieraus folgt, daß Wissenschaften, deren Lehren apodiktische Gewißheit haben, dieselben nicht aus der Wahrnehmung geschöpft haben können; daß folglich die Teile der anschaulichen Welt, auf die sie sich beziehen, zu den ursprünglich meinem Intellekte angehörigen Bestandstücken gehören müssen (argumentum e mathematicis).

5) Wahrnehmung kann mir nur Empfindungen geben; diese sind als solche etwas Vereinzeltes, Abgerissenes; denn, so schwer es auch anfänglich zu fassen ist, zur Materie der Empfindungen, die mir von außen kommt, können nur die Empfindungen selbst, nicht aber irgendein Zusammenhang derselben untereinander gehören, weil ein solcher eben nur das Band der Empfindungen ist. Daher muß das Vermögen, welches die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung zur Einheit zusammenbindet und dadurch unter meinen Vorstellungen Zusammenhang schafft, a priori in mir liegen. Folglich ist alles, was den Zusammenhang in der Natur bedingt, zu den angeborenen Formen meines Intellektes zur rechnen (argumentum e continuitate).

6) Wahrnehmung kann nie ein Unendliches umspannen. Finde ich nun in meiner Anschauung von den Dingen Elemente, deren ich mir als unendlich bewußt bin, so folgt daraus sicher, daß ich sie nicht durch Wahrnehmung in mich aufgenommen habe, sondern vielmehr als Formen meines Erkenntnisvermögens besitze, daher ich, soweit ich auch in der Anschauung fortgehen mag, nie über dieselben hinausgelangen kann, worin eben die Unendlichkeit besteht (argumentum ex infinitate).

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VII. Die Elemente a priori sind: Raum, Zeit und Kausalität

§ 47
Drei Bestandstücke der uns umgebenden anschaulichen Welt, nicht weniger noch mehr, erweisen sich an diesen sechs Prüfsteinen als ursprünglich unserm Intellekte angehörige Formen, in die wir den Stoff der Wahrnehmung einreihen, um ihn zur Anschauung umzuformen; daher wir dieselben aus der Natur herauszuziehen haben, um die Dinge an sich übrig zu behalten. Sie sind:

1. der Raum,
2. die Zeit,
3. die Kausalität.

Daß die genannten drei es sind, welche die uns umgebende Erscheinungswelt von dem an sich Seienden unterscheiden, ist die Fundamentalwahrheit aller Metaphysik; daher sie sich, wenigstens indirekt und als Folgerung ausgesprochen, in den verschiedensten Entwicklungsstadien der Metaphysik wiederfinden läßt, wie folgende Beispiele zeigen.

Im Vedanta, dem tiefsinnigsten metaphysischen Systeme Indiens, erscheint das Ding an sich als das Brahman. Von ihm wird ausgesagt, daß nicht durch Raum und Zeit zersplissen (deca-kala-anavacchinna) sowie frei von aller Veränderung (sarva-vikriya-rahita) sei. (Cankara ad Brihad-aranyaka-upanishad. I. 3,1 p. 79,1. - ad Brahmasutrani I, 1,4 p. 64,1). Wo aber keine Veränderung ist, da ist auch keine Kausaltät.

Die Kausalitätslosigkeit der Dinge an sich ist ebenso das Grunddogma der Philosophie des Platon. Immer wieder kommt er auf die Scheidung zurück zwischen der von der Kausalität beherrschten Erscheinungswelt, welche er das Werdende und Vergehende aber nie das Seiende nennt (gigomenon kai apollymenon, ontos de oudepote on, Tim 28 A = [Seiendes... welches dem Entstehen und Vergehen ausgesetzt und nie wahrhaft seiend ist]), und dem an sich Seienden, welches er in den stärksten Ausdrücken alle Veränderungen abspricht (monoeides on auto kath hautho, hosautos kata tauta echei kai oudepote oudamä oudamos alloiosin oudemian endechetai, Phaedon 78 D = [erweitert um den Kontext]: Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was nur ist selbst, nimmt das wohl jemals auch nur irgendeine Veränderung an? Oder verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein an und für sich immer auf gleiche Weise und nimmt niemals auf keine Weise irgendwie eine Veränderung an?) Wie die Kausalität, so beschränkt er ebenfalls auf die Sinnenwelt und wehrt von dem an sich Seienden ausdrücklich ab den Raum (pros ho dä kai oneiropoloumen blepontes kai phamen anankaion, einai pou to on hapan en tini topo kai katechon choran tina, Tim 52 B = Darauf hinblickend, überlassen wir uns dann Träumereien und behaupten, alles Seiende müsse notwendig an einer Stelle sich befinden und einen Raum einnehmen) und die Zeit (tauta de panta merä chronou, kai to t än to t estai chronou gegonota eidä, a dä perontes landthanomen epi tän aidion ousian ouch orhtos, Tim 37 E = Dies alles aber sind Teile der Zeit und das War und Wirdsein sind Formen der entstandenen Zeit, obwohl wir mit Unrecht, ohne dies zu bedenken, dieselben dem ewigen Sein beilegen).

Die biblische Metaphysik faßt das an sich Seiende als Persönlichkeit auf, nimmt jedoch die in diesem Begriffe liegende Beschränkung zurück, wenn sie als Attribute Gottes 1) die Ewigkeit d. i. Zeitlosigkeit (me olam ad-olam attha el, Psalm 90,2 = von Ewigkeit zu Ewigkeit bist Du, Gott, rev. Elberfelder 1985), 2) die Allgegenwart d.i. Unräumlichkeit (et-haschschamajim veet-haarez ani male nium-jihovah, Jerem. 23,24 = Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt, spricht Jehovah), 3) die Unwandelbarkeit d.i. Kausalitätslosigkeit (hemmah [Himmel und Erde] jobedu veattah taamod, Psalm 102,27 = Sie [Himmel und Erde] werden umkommen, du aber bleibst) aufrecht hält.

Wie einem Traume das Wachen, so stehen diesen Zeugnissen der Vorzeit die Beweise für die Apriorität des Raumes, der Zeit und der Kausalität gegenüber, welche Kant zuerst aufgestellt, Schopenhauer von falschen Beimischungen befreit und vervollständigt hat. Beiden ist dafür die Verehrung vieler kommenden Jahrhunderte gewiß.

Wenn wir gleichwohl im folgenden versuchen, diese Beweise teils vollständiger und systematischer, teils faßlicher zu führen, als es von den unsterblichen Lehrern geschehen ist, so begehen wir dadurch keinen Akt der Impietät: denn hier wie überhall haben wir das Recht, die Dinge mit unsern eignen Augen zu sehen.

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VIII. Der Raum ist eine Anschauungsform a priori

§ 48
Der Raum ist derjenige Bestandteil der anschaulichen Welt, vermöge dessen alle Objekte ihrer Lage nach gegeneinander bestimmt sind. Er ist als solcher nicht etwas von mir unabhängig Daseiendes, sondern eine anschauliche Vorstellung a priori.

Erster Beweis: ex antecessione

§ 49
Ich habe die Anschauung des Raumes. Dieselbe muß entweder aus der Erfahrung oder aus mir selbst stammen. Aus der Erfahrung nun kann sie nicht geschöpft sein: denn jede Erfahrung setzt sie schon voraus, weil Erfahrung nur dadurch zustande kommt, daß ich gewisse Empfindungen auf etwas außer mir, und ihre Verschiedenheit auf verschiedene Orte, die außereinander sind, beziehe; dies setzt bei jeder Erfahrung die Vorstellung des Raumes voraus. Folglich kann sie nicht aus der Erfahrung, folglich nur aus meinem Erkenntnisvermögen stammen.

Zweiter Beweis: ex adhaesione

§ 50
Ich kann aus meiner Vorstellung von der Außenwelt alles in Gedanken wegnehmen, nur nicht den Raum. Ich kann mir nicht vorstellen, daß kein Raum sei, während ich mir doch ganz wohl vorstellen kann, daß keine Gegenstände in demselben angetroffen werden. So kann ich mir aus dem Weltalle alles wegdenken, bis auf den Raum, der es erfüllt: diesen aber hinwegzudenken ist mir schlechterdings unmöglich. Hieraus folgt, daß der Raum nicht zu den vorgestellten Objekten, sondern zu meinem Vorstellungsvermögen selbst gehört: denn von diesem, und nur von ihm kann ich nicht absehen, wenn ich überhaupt vorstelle.

Dritter Beweis: e necessitate

§ 51
Alle einzelnen Bestimmungen des Raumes sind notwendig, alles was ihnen widerspricht ist unmöglich. Es ist notwendig, daß ich, um zu einem Dinge zu gelangen, alle Teile des Raumes durchmesse, die mich von ihm trennen; es ist unmöglich, daß ich an keinem Orte, oder an zwei Orten zugleich sei usw. Jeder fühlt, daß die Gewißheit dieser und ähnlicher Bestimmungen ganz anderer Art ist als die, welche mir durch oftmals wiederholte Erfahrung kommt. Denn Erfahrung kann mir nur sagen, daß etwas bis jetzt nie anders als so sich gezeigt habe: nicht aber, daß etwas notwendig so und nicht anders sei. Folglich kann der Raum, dessen Bestimmungen durchweg notwendig sind, nicht aus der Erfahrung, folgleich nur aus mir selbst herrühren.

Vierter Beweis: e mathematicis

§ 52
Die Geometrie spricht alle ihre Lehrsätze apodeiktisch, d.h. mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit aus. Daher sie weder eigentliche Streitfragen noch Hypothesen kennt, von denen die empirischen Wissenschaften voll sind. Hieraus folgt mit Gewißheit, daß die Lehren der Geometrie nicht aus der Wahrnehmung geschöpft sein können, daß also der Gegenstand dieser Wissenschaft nicht empirisch ist. - Nun ist der Gegenstand der Geometrie der Raum. Nur um dessen Gesetze zu ergründen, imaginiert sie Punkte, Linien, Flächen und Körper. Denn in ihnen offerbart sich das Wesen des Raumes, ähnlich wie das Wesen der Charaktere, die der Dramatiker uns aufschließen will, sich in den Handlungen offenbart, die er zu diesem Zwecke erfindet. - Folglich ist der Raum eine Vorstellung a priori.

Fünfter Beweis: e continuitate

§ 53
Jede äußere Wahrnehmung (sei es eines Körpers oder seines Flächenbildes im Auge) enthält eine unendliche Mannigfaltigkeit von Teilen, die als Affektionen meines Ich keine Beziehungen zueinander, sondern nur eine Beziehung zu mir haben. Mithin muß das Band, welches dieselben zur Einheit einer zusammenhängenden Anschauung verknüpft, nicht außerhalb, sondern innerhalb meiner liegen. Nun ist das Band, welches die unendliche Vielheit der äußern Affektionen (mögen sie durch ein Sinnesorgan oder durch mehrere gegeben sein) zur Einheit der äußern Anschauung verbindet, der Raum. Folglich liegt er nicht außer mir, sondern in mir.

Sechster Beweis: ex infinitate

§ 54
Der Raum ist (wie § 7 bewiesen) unendlich. Ich weiß mit der größten Gewißheit, daß jenseits aller Sonnensysteme, in Fernen wohin kein Teleskop mehr dringt, keine Erfahrung reicht, immer noch der Raum da ist. Aus Erfahrung kann ich es nicht wissen. Folglich bleibt übrig, daß ich es a priori weiß.

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IX. Die Zeit ist eine Anschauungsform a priori

§ 55
Die Zeit ist derjenige Bestandteil der anschaulichen Welt, vermöge dessen alle Zustände und Veränderungen, mögen sie nun der innern oder der äußern Erfahrung angehören, ihrer Folge nach gegeneinander bestimmt sind. Sie ist als solche nicht etwas von mir unabhängig Daseiendes, sondern eine anschauliche Vorstellung a priori.

Erster Beweis: ex antecessione

§ 56
Die Vorstellung der Zeit kann nicht aus der Erfahrung geschöpft sein, weil jede Erfahrung, um gemacht werden zu können, dieselbe schon voraussetzt. Denn um Erfahrung haben zu können, ist es erforderlich, daß ich gewisse Empfindungen entweder zugleich oder nacheinander habe. Das Zugleich und das Nacheinander liegt aber nicht in den Empfindungen als solchen. Folglich liegt es in mir und ist eben das, was das Wesen der Zeit ausmacht.

Zweiter Beweis: ex adhaesione

§ 57
Nehme ich an, die Welt stände still, jede Bewegung wäre gehemmt, alle Veränderung stockte, so würde es zwar bei dem Stillstand aller Uhren, sowie der großen Weltuhr (der um die Sonne rotierenden Erde), an jedem Mittel fehlen, die Zeit zu messen; diese selbst aber würde ungestört fortgehen, und nach wie vor würde rastlos auf jeden Augenblick ein anderer folgen. Lösche ich hierdurch alle innere und äußere Wahrnehmung (welche nichts als eine Art Veränderung ist) aus, so würde mir immer noch die Vorstellung der (absolut leeren) Zeit bleiben, und diese würde erst mit meinem Vorstellungsvermögen selber erlöschen; woraus sicher folgt, daß sie nicht zu den unabhängig von mir bestehenden Dingen gehört, sondern eben meinem Vorstellungsvermögen selbst als dessen unabgängliche Form anhaftet.

Dritter Beweis: e neccesitate

§ 58
Alle einzelnen Bestimmungen der Zeit sind notwendig, alles was ihnen widerspricht, ist unmöglich. Es ist notwendig, daß ich, um zu irgendeinem Zeitpunkte der Zukunft zu gelangen, genau das Quantum Zeit, welches die Gegenwart von ihm trennt, und nicht mehr noch weniger, durchlebe; es ist unmöglich, irgendeinen Moment der Vergangenheit zurückzurufen; die Gewißheit dieser und ähnlicher Bestimmungen kann nie durch Erfahrung, und wäre sie noch so allgemein und ausnahmslos, erreicht werden. - So kann man zweifeln, ob die Geburt des Platon nach Apollodorus auf 427 oder nach Athenaeus auf 429 a.C. zu legen sei; wollte aber jemand behaupten, beide Autoren hätten Recht, indem eben Platon zweimal nacheinander geboren sei, so würden wir ihn nicht etwa darauf hinweisen, daß ein solcher Fall noch nie dagewesen und daher äußerst unwahrscheinlich sei, sondern wir würden ihn für verrückt erklären, ein Ausdruck, der bedeutet, daß sich in der Maschinerie seines Kopfes etwas verschoben haben müsse, welches denn in gegenwärtigem Falle die Gehirnfunkton der Zeit wäre.

Vierter Beweis: e mathematicis

§ 59
So wie die Sätze der Geometrie, haben auch die der Arithmetik (deren verallgemeinerte Fort die Algebra ist) apodeiktische Gewißheit. Folgleich kann der Gegenstand dieser Wissenschaft nicht aus der Erfahrung stammen. Wie nun die Geometrie die Wissenschaft vom Raume, so ist die Arithmetik die Wissenschaft von der Zeit, was aus folgendem erhellt. Die ganze Arithmetik mit ihren kompliziertesten Formeln und Operationen läßt sich betrachten als ein methodisch abgekürztes Zählen (daher der Name arithmätikä, d.i. Zählkunst). Beim Zählen abstrahiere ich von allem, ausgenommen die Zeit. Denn Zählen besteht in wiederholtem Setzen der Einheit, für die ich jedesmal ein anderes konventionelles Wort (eins, zwei, drei usw.) setze, bloß um zu wissen, wie oft ich schon die Einheit gesetzt habe. Nun beruht alle Wiederholung auf Sukzession, diese aber ist eben das Wesen der Zeit. Folglich ist das Zählen und somit die Arithmetik die Wissenschaft von der Zeit; aus der Apodeiktizität der arithmetischen Sätze folgt demnach die Apriorität der Zeit.

Fünfter Beweis: e continuitate

§ 60
Jede Wahrnehmung wird nur dadurch möglich, daß ich von außen oder innen eine gewisse Zeitlang affiziert werde. Diese Zeit, und wäre sie noch so kurz, besteht aus einer unendlichen Anzahl von Teilen, welcher eine unendliche Vielheit der sie füllenden Affektionen entspricht (gleichviel ob der Gegenstand, der mich affiziert, in Ruhe oder in Bewegung ist). Alle diese Affektionen meines Ich haben als solche keine Beziehung zueinander, sondern nur eine Beziehung zu mir. Somit kann der Fade, welcher sie zur Einheit der Wahrnehmung aneinanderreiht, nicht in den Affektionen selbst, also nicht außer mir, mithin nur in mir liegen. Dieser Faden, an dem ich alle von außen wie von innen kommenden Affektionen aufreihe, ist die Zeit. Sie muß somit als die Bedingung der Synthesis der Wahrnehmungen a priori gegeben sein.

Sechster Beweis: ex infinitate

§ 61
Die Zeit ist (nach § 9) in beiden Richtungen unendlich. Ich weiß gewiß, daß in der grauesten Vergangenheit, bis zu der keine Kunde reicht, in der fernsten Zukunft, in die kein Seherauge dringt, die Zeit war und sein wird. Aus der Erfahrung kann ich es nicht wissen; somit folgt ohne Widerrede, daß ich es unabhängig von der Erfahrung, das heißt a priori weiß.

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X. Die Kausalität ist eine Anschauungsform a priori

§ 62
Wie der Raum die Ordnung der Dinge ihrer Lage nach, und die Zeit die Ordnung der Dinge ihrer Folge nach ist, so ist die Kausalität die Ordnung der Dinge ihrem Wirken nach. So wie nun jeder einzelne Ort und jeder einzelne Zeitabschnitt empirisch bestimmt wird, hingegen Raum und Zeit selbst als die allgemeine Möglichkeit der empirischen Raum- und Zeiterfüllung Anschauungen a priori sind, so wird zwar auch jede einzelne Wirkung empirisch bestimmt, aber die allgemeine Möglichkeit des Wirkens, d.i. die Kausalität, geht ihnen, wie zu beweisen sein wird, a priori voran. Sie ist das Netz, welches, in der vom Gesetze der Kausalität (§15) geregelten Weise, alle Wirkungen, d.h. alle Kraftäußerungen (§ 24) untereinander verbindet und sie als Wirkungen vorhergehender, als Ursachen nachfolgender Kraftäußerungen in mannigfacher Art zusammenkettet.

Als solche ist die Kausalität durchaus nichts Abstraktes, sondern wie der Raum und die Zeit ein Bestandstück des Komplexes der empirischen Realität; wenn es uns auch nicht gelingen will, dieselbe, behufs gesonderter Betrachtung, so reinlich aus den Wirkungen herauszuheben, wie aus den Körpern den Raum und aus den Begebenheiten die Zeit. Dagegen tritt die Zugehörigkeit zum Ganzen der anschaulichen Welt deutlich hervor, wenn wir sie als den Raum erfüllen und in er Zeit beharrend vorstellen, wo sie als das erscheint, was man nach Abtrennung aller Kraftäußerungen von en Dingen übrig hält und im Gegensatze zur Kraft als die Materie oder Substanz bezeichnet. Doch kann dies erst später (Kap. XVI) näher erörtert werden. Hier liegt es uns zunächst nur ob nachzuweisen, daß die Kausalität so wie der Raum und die Zeit ein unserm Verstande a priori angehöriges Vermögen ist.

Erster Beweis: ex antecessione

§ 63
Das in der anschaulichen Welt liegende Verhältnis jeder Wirkung zu einer ihr vorhergehenden Ursache, welches wir die Kausalität (d.i. das Verursacht-sein) nennen, kann nicht aus der Erfahrung erlernt sein, sonder muß als ein angeborenes Vermögen, welches uns zwingt, jede Kraftäußerung als Wirkung aufzufassen und von ihr unmittelbar und ohne Reflexion auf ihre Ursache zurückzugehen, a priori in unserm Verstande liegen. Diese so überraschende und folgenschwere Wahrheit ergibt sich mit der größten Sicherheit daraus, daß jede Erfahrung, um gemacht werden zu können, eine Anwendung der Kausalität voraussetzt. Alles nämlich, was mir von außen kommen kann, sind (wie wir in § 44 gezeigt haben) Affektionen meiner Sinnesnerven, und nie würde ich über sie hinaus, nie zu einer Anschauung der Außenwelt gelangen, träge ich nicht a priori in mir das Vermögen, diese Affektionen als Wirkungen zu fassen und von ihnen auf etwas anderes, nämlich auf ihre Ursachen überzugehen, welche ich als Körper in den (gleichfalls a priori mir angehörenden) Raum verlege. Diese Unmöglichkeit, die Anschauung der Außenwelt ihrer Entstehung nach zu erklären, ohne daß man die Kausalität zur Hilfe zieht, zeigt deutlich und unwidersprechlich, daß die Kausalität selber nicht aus der Anschauung der Außenwelt geschöpft sein kann, sondern a priori im Intellekte liegen muß.

Zusatz. Es ist, wie später einleuchten wird, ganz das nämliche, ob ich sage: keine Empfindung kann als Körper aufgefaßt werden ohne Voraussetzung der Kausalität; oder ob ich sage: keine Kraft kann mich affizieren ohne getragen zu werden von der Materie.

Zweiter Beweis: ex adhaesione

§ 64
Die Kausalität für sich ist nicht anschaubar (§ 62); sie wird es erst in ihrer Vereinigung mit Raum und Zeit, wo sie Materie heißt. Da nun der Beweis ex adhaesione auf der Unauslöschbarkeit gewisser Elemente der Anschauung fußt (§ 46,2), so läßt er sich nur für die objektiv angeschaute Kausalität, d.i. die Materie, führen. Er kann daher, wie alles in gegenwärtigem Kapitel, was die Identität von Kausalität und Materie voraussetzt, erst nach dem Studium der Lehre von der Materie (Kap. XVI) völlig verstanden werden.

Die Materie hat die seltsame Eigenschaft, ein Zufällig-Notwendiges zu sein. Ich kann mir zwar vorstellen, daß keine Materie sei (was bei Raum und Zeit nicht angeht), ich kann mir aber nicht vorstellen, daß die Materie, welche nun einmal ist, nicht sei. Hierauf beruht ihre Unerschaffbarkeit und Unvernichtbarkeit, welche (wie schon § 12 bemerkt) vor aller Erfahrung a priori feststeht. Die Unmöglichkeit nämlich, ein Entstehen oder Vergehen der Materie auch nur vorzustellen, besagt, daß ich mein Vorstellungsvermögen von ihrem Dasein nicht loszutrennen vermag, woraus folgt, daß sie nicht, wie die von ihr getragenen Kräfte, ein von meinem Intellekte unabhängiges Dasein hat, sondern diesem als ursprüngliche Form des Vorstellens anhaftet.

Dritter Beweis: e necessitate

§ 65
Die Kausalität ist in allen ihren (§§ 14-20 aufgezählten) Bestimmungen notwendig; alles, was diesen Bestimmung widerspricht, ist unmöglich. So können wir zwar oft zweifeln, aus welcher Ursache eine gewisse Wirkung zu erklären sei, aber daß sie irgendeine Ursache haben müsse, steht uns allen im voraus fest. So wenig daher der Richter dem Angeklagten glauben wird, wenn derselbe, aufgefordert sein Alibi zu erweisen, behaupten sollte, er sei im fraglichen Augenblicke an gar keinem Orte geweden, so wenig wird er, bei einem als Wirkung vorliegenden Verbrechen, es für möglich halten, daß dasselbe gar keine Ursache habe. Wäre das Kausalitätsgesetz ein Naturgesetz a posteriori (§ 21), so könnte unsere Erfahrung, und wäre sie noch so allgemein, nicht dafür einstehen, daß es nicht doch vielleicht einmal eine Ausnahme zuließe.

Daß Erfahrung keine Notwendigkeit gebe, war eine Überzeugung, von der David Hume ebenso sehr geleitet wurde wie Kant. Man verleiche aber die Folgerungen, welche beide aus diesem Satze zogen:

Hume schloß:

Erfahrung gibt keine Notwendigkeit.
Nun stammt das Kausalitätsgesetz aus der Erfahrung.
⇒ Folglich hat es keine Notwendigkeit.

Kant schloß:

Erfahrung gibt keine Notwendigkeit.
Nun hat das Kausalitätsgesetz Notwendigkeit.
⇒ Folglich stammt es nicht aus der Erfahrung.

Vierter Beweis: e mathematicis

§ 66
Neben Geometrie und Arithmetik gibt es noch eine dritte Wissenschaft, deren Sätze apodeiktische Gewißheit haben; sie bildet denjenigen Bestandteil der Naturwissenschaften, welcher übrig bleibt, wenn wir alle Naturgesetze a posteriori, wie sie der Ausdruck für das konstante Wirken der Naturkräfte sind (§ 21) ausscheiden, und welchen Kant in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" einer abgesonderten Betrachtung unterwarf. Nehmen wir aus unserm Wissen von der Natur alles weg, was empirisch durch Induktion gewonnen wurde, so bleibt uns kein bestimmtes Wirken mehr, sondern nur die allgemeine Möglichkeit des Wirkens (d.i. die Kausalität), welche, ansgeschaut als den Raum erfüllend und in der Zeit beharrend, die Materie ausmacht (wie weiter unter zu beweisen sein wird). Die Lehren von der Ruhe und Bewegung der Materie haben apodeiktische Gewißheit; folglich ist uns ihr gegenstand nicht empirisch, sondern a priori bekannt.

Fünfter Beweis: e continuitate

§ 67
Wenn die Affektionen, auf welche sich alle Wahrnehmung beschränkt, schon nicht imstande sind, mir einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Bewußtsein zu bringen (§§ 53. 60), so vermögen sie noch viel weniger, den oft so disparaten Zusammenhang der Wirkung mit ihrer Ursache mitzuteilen. Kann derselbe nun nicht aus der Wahrnehmung geschöpft werden, so folgt, daß mein Verstand ihn schafft, indem er, wie die Körper im Raum und die Veränderungen in die Zeit, so auch alle wahrgenommen Kraftäußerungen in die a priori ihm angehörige Kausalität als Ursachen und Wirkungen zueinander einordnet: wodurch natürlich nicht ausgeschlossen wird, daß er im einzelnen, bei dieser Einordnung sich von den früher gemachten Erfahrungen leiten läßt.

Sechster Beweis: ex infinitate

§ 68
Das Netz der Kausalität ist (wie § 19 bewiesen) anfanglos und endlos, das heißt, es ist unendlich in der Zeit. Ob es auch im Raume unendlich ist, wissen wir nicht, weil es uns unbekannt ist, ob der Vorrat an Materie, an welche das Wirken und somit die Kausalität gebunden ist, begrenzt oder unbegrenzt sei (§ 13). Aber so viel wissen wir ganz bestimmt, saß es auf dem fernsten Sterne, daß es in der frühesten Vergangenheit wie in der spätesten Zukunft nie eine Wirkung geben kann, die ohne Ursache wäre. Keine Erfahrung reicht bis zu jenen Räumen und Zeiten: somit folgt, daß wir es unabhängig von der Erfahrung, also a priori wissen.

Zusatz: Auch aus diesem Beweise (wie aus § 64) läßt sich der Satz ableiten, daß die Materie, welche die objektiv angeschaute Kausalität ist, nie erschaffen werden konnte und nie vernichtet werden wird.

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XI. Der empirische und der transzendentale Standpunkt

§ 69
Rückblick.
Das Ergebnis unserer bisherigen Untersuchungen läßt sich in folgende Sätze zusammenfassen:

  • 1) Die Welt ist ein Gebilde von ganz und gar materieller Art, welches, durchflochten von der Kausalität, im undendlichen Raume die unendliche Zeit lang besteht (§§ 7-30).
  • 2) Ebendiese materielle Welt ist durch und durch nur eine Vorstellung meines Intellektes, und ihre Materialität ist bloß die Form, in der die Dinge mir erscheinen (§§ 38-40).
  • 3) An sich, d.h. unabhängig von meinem Intellekte, existiert nichts als das, was wir Empfindungen oder Affektionen des Ich genannt haben (§§ 42-45). Dieselben sind uns, ihrem Wesen nach, gänzlich unbekannt: denn wenn die Physiologie, in deren Betrachtungsweise der Intellekt als Gehirn erscheint, seine Affektionen als Reize der Sinnesnerven nachweist, so faßt sie dieselben schon auf wie sie uns erscheinen, nicht aber wie sie ans sich sind.
  • 5) Drei Bestandstücke er Außenwelt, aus denen das Grundgerüste der Natur besteht, der Raum, die Zeit und der Kausalnexus, sind, wie wir durch dreimal sechs Beweise dargetan haben, die angeborenen Formen, deren Ineinander das Wesen des Intellektes ausmacht. Sie sind, physiologisch gesprochen, Funktionen des Gehirns, und somit nicht etwas, was unabhängig von meinem Erkenntnisvermögen bestünde.

Niemand wird daran denken können, den Folgerungen auszuweichen, die wir aus diesen Tatsachen weiterhin ziehen werden, solange es ihm nicht gelungen ist, die ganze Reihe der von uns aufgestellten Beweise zu widerlegen. - Daß dies jemals geschehen sollte, indem es jemand gelänge, jeden der sechs aufgestellten Beweise für die Apriorität des Raumes, der Zeit und er Kausalität einzeln zu untergraben und dadurch unsern ganzen, auf ihnen ruhenden Bau umzustürzen, dies ist, nach unserm Ermessen, für alle künftigen Zeiten unmöglich. - Daß es aber nach wie vor nicht an solchen fehlen werde, welche wähnen widerlegt zu haben, was noch nicht einmal richtig von ihnen begriffen worden ist, das ist nicht allein möglich, sondern sogar wahrscheinlich.

§ 70
Drei Standpunkte lassen sich den von uns festgestellten Tatsachen gegenüber einnehmen: der empirische, welcher sie ignoriert, der transzendente, welcher ihnen trotzt, und der transzendentale, welcher sie benutzt.

§ 71
Der empirische Standpunkt ist derjenige, auf welchem alle Menschen von Natur und fast alle ihr ganzes Leben durch stehen. Er ist der allein gültige für alle Wissenschaften, mit Ausnahme der Metaphysik, und für alles praktische Leben, mit Ausnahme der rein moralischen, d.i. selbstlosen Taten, welche eben dadurch, wie später zu beweisen sein wird, einen überweltlichen Charakter tragen und mit den übrigen, weltlichen Handlungen in Widerspruch treten. Dieser Standpunkt überspringt die aus der Analysis des Erkenntnisvermögens sich ergebenden Tatsachen, denn ihm ist es nur um die Dinge zu tun, wie sie für uns sind, und nicht, wie sie an sich sein mögen. Ob die bewunderungswürdige Konsequenz, die wir überall in der Natur antreffen, und auf die wir zuversichtlich unsere Pläne bauen, auf einer objektiven Ordnung der Dinge an sich oder auf subjektiven Gesetzen des Intellektes beruht, das kann für das praktische Leben und die ihm dienenden empirischen Wissenschaften gleichgültig sein: denn wenn auch Raum, Zeit und Kausalität nur die angeborenen Formen des Intellektes sind, so beherrschen sie darum doch nicht weniger alles Irdische mit ausnahmslosem Zwange, als wenn sie ewige Bestimmungen der Dinge selbst wären, weil 1) der Intellekt stets mit sich selbst übereinstimmt und dazu 2) vom Dasein untrennbar ist.
1) Einerseits nämlich ist das Erkenntnisvermögen in allem Lebenden nur seiner Energie nach, also nur gradweise verschieden, seinem eigentlichen Wesen nach aber überall identisch, so daß alle Intellekte aus der selben Affektion ebensogut im wesentlichen dieselben Anschauungen produzieren müssen, wie die Verdauungsorgane bei allen Menschen aus derselben Nahrung im wesentlichen dieselben zum Aufbau des Körpers erforderlichen Stoffe ziehen; 2) anderseits ist der Intellekt die nie fehlende Voraussetzung des Daseins; er ist, wie die Inder sagen, "der Zeuge" (sakshin), welcher das ganze Wechselspiel des Lebens von der Geburt bis zum Tode als dessen unerläßliche Bedingung begleitet, und es gibt (wie aus § 42 folgt) so wenig eine Welt ohne Intellekt, wie es einen Intellekt ohne Welt gibt. -
Man wende nicht ein, daß viele Revolutionen unseres Planeten vorhergehen mußten, ehe es zur Entstehung lebender und erkennender Wesen kommen konnte: denn alle jene vergangenen Weltperioden, von denen die Geologie erzählt, sind, nicht mehr und nicht weniger als die unmittelbarste Gegenwart, nur die Form, in welcher die Dinge unserm an Raum und Zeit gebundenen Erkenntnisvermögen erscheinen; an sich gibt es keine Zeit, also auch keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.

§ 72
Der transzendente Standpunkt
überschreitet, wie der Name besagt [lat. transcendere „übersteigen“ HG], die Grenzen des durch Erfahrung erreichbaren Wissens. Alles nämlich, was wir durch die von Jahrtausenden aufgehäuften Erfahrungen wissen und je dazu lernen werden, ist zu vergleichen einer kleinen Insel auf dem unermeßlichen Ozean. Sehnsüchtig und eines höhern Ursprungs sich bewußt, hat das menschliche Gemüt zu allen Zeiten versucht, die Grenzen des Wissens zu überschreiten, welche demselben ein für allemal durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens selbst gesetzt, und, um der Reinheit des moralischen Handelns willen, weislich gesetzt sind. Aber schon eine durchgeführte empirische Naturbetrachtung, deren Umrisse wir im "Systeme der Physik" entworfen haben, schneidet allen solchen Versuchen, über die Atmosphäre der Erfahrung hinauszufliegen, den Weg ab. Denn so weit wir auch nach allen Seiten ins Unendliche fortschreiten mögen, immer bleiben wir in dem trostlosen Käfige der empirischen Realität. In großen Stile unternahm eine solche Zurückweisung der transzendierenden Vernunft in die Schranken der Empirie Kant in der "Kritik der reinen Vernunft". Jedoch kommt er uns vor dabei wie Saul, der Sohn Kis´, welchen von seinem Vater (David Hume) ausgesandt wurde, die Eselinnen zu suchen, und eine Königskrone fand. Denn indem Kant das Erkenntnisvermögen analysierte, um seine Tragweite zu bestimmen, gelangte er bei dieser gegen die transendente Vernunft gerichteten und daher transzendentalen Untersuchung zur größten Entdeckung, die je in allen Wissenschaften gemacht wurde, zur Auffindung der apriorischen Formen des Intellektes, deren Nachweis die Basis aller wissenschaftlichen Metaphysik ist und bleiben wird.

§ 73
Der transzendentale Standpunkt
, dessen Benennung wir dem Andenken Kants schuldig sind, vermißt sich nicht, wie der transzendente, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, sondern er begnügt sich damit, die von ihr dargebotene Welt im innersten Grunde zu verstehen. Zu diesem Zwecke durchforscht er die Welt, indem er überall von den Dingen dasjenige in Abzug bringt, was an ihnen nur durch die Formen des Intellektes gesetzt ist. Dem fast übermenschlichen Scharfsinn Kants war es gelungen, diese Formen (wiewohl nicht frei von unrichtigen Beimischungen) aufzufinden; Schopenhauers unermeßlich weiter und tiefer Geist war dazu berufen, diese Entdeckung fruchtbar zu machen, indem er ihre Strahlen von dem Zentrum des eigenen Innern aus bis zur Peripherie der Welt ausbreitete und dadurch wissenschaftlich gewann, was jahrtausendelang die ahnungsvollen Stimmen der Weisesten unter den Menschen nur bildlich auszudrücken wußten.
Beiden Männern wird die Nachwelt ein gemeinsames Standbild setzen, welches den einen darstellt, wie er dasitzt in sich gekehrt und in tiefes Sinnen versunken, während der andere, auf ihn gelehnt, mit gehobenem weitem Blicke die Welt zu umfassen scheint.
Wir und viele nach uns wandeln den Weg, welchen jene Übermenschen für alle Nachgeborenen gebahnt haben; aber wir müssen ihn auf eigenen Füßen wandeln. Nicht Worte und individuelle Meinungen der ewigen Meister dürfen uns leiten, sondern die Natur selbst, deren inneres Wesen sie uns aufgeschlossen haben.

Unser Standpunkt ist nicht empirisch, noch transzendent, sondern transzendental: - wir berühren die Grenze und überschreiten sie nicht.

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XII. Transzendentale Analysis der empirischen Realität

§ 74
Die erste Frucht des transzendentalen Standpunktes ist die Lösung des (§ 37 aufgeworfenen) Problems der anschaulichen Erkenntnis, welche von empirischem Standpunkte aus unmöglich war und eben dadurch über ihn hinaus wies.
Das Organ des Erkennens, von dem, wie wir wissen, die Welt abhängt, erscheint in der Physiologie als Gehirn. Indem dasselbe fünf verschiedene Absenker in die Sinnesorgane schickt, streckt es sich gleichsam den fünf Aggregatszuständen der Dinge (welche, der Hauptsache nach, die bhutani, stoicheia, elementa der Alten sind), dem Festen, Flüssigen, Dunstförmigen, Permanent-Elastischen, Impoderabilen, entgegen und paßt sich ihnen gewissermaßen an; ein Gedanke, der die ganze indische Philosophie durchzieht, während wir bei den Griechen nur unsichere Spuren davon finden (vergl. Aristoteles de sensu 2). In welcher Weise nun aber das Gehirn die Empfindungen der Sinne zu Vorstellungen verarbeitet, das vermag die Physiologie aus den Furchen und Windungen dieses so seltsam gebauten Organs nicht herauszulesen. Hier kommt ihr die Psychologie zur Hilfe. Für ihre innerliche Betrachtung erscheint das Gehirn als Verstand, welchen sie begreift als ein Ineinander von Raum, Zeit und Kausalität, d.h. als ein Vermögen, gegen die andringenden Affektion in dreifacher Richtung zu reagieren, wodurch die Anschauung der Außenwelt entsteht wie folgt.

§ 75
Der Verstand ist es, welcher erstlich alle Affektionen der Sinne an dem ihm einwohnende Faden der Zeit zu einem zusammenhängenden Ganzen aufreiht. Zweitens faßt derselbe vermöge der ihm angeborenen Kausalität jede äußere Affektion als Wirkung auf, von welcher er (nicht durch Absicht oder Reflexion geleitet, sondern ganz unmittelbar von seiner eigenen Natur getrieben) übergeht zu der sie bedingenden Ursache. Diese verlegt er drittens in den ihm gleichfalls von Natur anhaftenden Raum, wodurch sie sich darstellt als körperliches Objekt.

§ 76
Das Produkt, welches durch die fort und fort geübte Reaktion der Verstandesformen gegen die andringenden Affektionen zustande kommt, ist in Wirklichkeit (kat´energeian) in jedem Augenblicke nur ein eng begrenzter Kreis von Vorstellungen; hingegen der Möglichkeit nach (kat´dynamin) bildet es den ganzen Komplex der empirischen Realität, und diese selbst ist nichts weiter als das meine Vorstellungen begleitende Bewußtsein von dem, was vorgestellt werden kann, neben dem, was jedesmal vorgestellt wird.

Anmerkung. Existieren oder wirklich sein heiß demnach nichts anderes als durch die Sinne vorgestellt werden können; wohingegen möglich dasjenige ist, dessen Wirklichkeit (d.i. Vorstellbarkeit durch die Sinne) vorgestellt werden kann.

§ 77
Deutlich und unwidersprechlich leuchtet als Resultat unserer bisherigen Betrachtungen in die Augen die große Lehre des Idealismus, dieser eigentlichen Wurzel aller Religion und Philosophie:

Die ganze in Raum und Zeit unermeßlich sich ausbreitende Natur besteht nur unter Voraussetzung der Formen unseres Intellektes und hat, abgesehen von ihnen, d.h. in metaphysischem Sinne, keine Realität; denn sie ist nichts anderes als das fort und fort immer neu sich erzeugende Produkt der Sinnesaffektionen mit den Verstandesformen. -

Das Widerstreben gegen diese Wahrheit, welches aus der physischen Bestimmung unseres Intellektes entspringt, wird sich mildern, wenn wir bedenken, daß die Körperwelt in Raum und Zeit nur die Form ist, in der unsern Augen das Wesen der Dinge an sich erscheint; es wird verschwinden, wenn wir (im zweiten Teile) auf dem allein möglichen Wege zur Erkenntnis des An-sich-Seienden durchdringen und sodann im einzelnen verfolgen werden, wie dasselbe in Raum, Zeit und Kausalität auseinandergezogen sich als das darstellt, was wir Natur nennen.

§ 78
Nun und nimmer würden die Sinne das wundervolle Werk der Anschauung zustande bringen, käme nicht der Aktion, welche von den Dingen auf die dünnen, in unsern Sinnesorganen verlaufenden Nervenfäden ausgeübt wird, von innen die Reaktion der gegen drei Pfund wiegenden Nervenmasse des so überaus künstlich gebauten Gehirnes entgegen; und zwar, wie schon die Inder richtig erkannten: "cakshur-adinam manah-samyogam vin vyparaakshamatvad" - "weil das Auge usw ohne Verbindung mit dem Verstande nicht imstande ist, seine Funktion zu verrichten" (Wilson, Sankhya-K. p. 100 n.). Nicht die Sinne sind es daher, welche sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, sondern der (als Gehirn sich darstellende) Verstand; wie auch Epicharmos (um 500 a.C.) einsah und vortrefflich ausdrückte durch den Vers (bei Plut. mor. p. 961 A):

Nous orä kai nous akouei, talla kora kai tuphla. [= Nur der Verstand kann sehn und hören; alles sonst ist taub und blind.]

§ 79
Man versage sich nicht den Genuß, im Lichte dieser so einfachen wie wichtigen Wahrheit, in welcher Physik und Metaphysik sich die Hand reichen, die Sinneswahrnehmung im einzelnen durchzugehen, und man überzeuge sich davon, wie z.B. die (nach § 37 physisch unbegreiflichen) Vorgänge beim Sehen sich aufhellen, sobald man nur daran festhält, daß der Verstand es ist, für welchen das Bild auf der Netzhaut als bloßes Datum dient, um von ihm als Wirkung zu seiner außerhalb liegenden Ursache überzugehen, welche er, mit Hilfe des Tastsinnes und der früher gemachten Erfahrungen, ihrer Lage, Größe und Entfernung nach ganz richtig in den Raum konstruiert. -
Eine ganze Reihe der schwierigsten Phänomene der Optik erklärt sich hieraus ganz ungezwungen; solche sind: das Aufrecht-Sehen des umgekehrten Bildes im Auge, das Einfach-Sehen mit zwei Augen, das Doppelt-Sehen bei nicht geschlossenem optischem Winkel, das Körperlich-Sehen des Flächenbildes im Auge; das Erkennen der Nähe und Kleinheit oder der Ferne und Größe des Objektes bei gleichem Sehwinkel, die Vergrößerung und Verkleinerung des physiologischen Farbenspektrums je nachdem man auf eine ferne oder nahe Fläche blickt, die Täuschung des Mikroskopes und Teleskopes usw.

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XIII. Vom unmittelbaren und mittelbaren Verstandesgebrauche

§ 80
Das Übergehen von der Wirkung in meinem Innern zu ihrer außer mir liegenden Ursache ist der unmittelbare Verstandesgebrauch. - Aber die Objekte der Außenwelt stehen (empirisch gesprochen) nicht allein zu mir, sondern auch zueinander in mannigfachen Beziehungen des Raumes, der Zeit und der Kausalität. Dasselbe Vermögen nun, welches zwischen dem (§ 43 als Nervenreiz erscheinenden) unmittelbaren Objekte und den mittelbaren Objekten eine Brücke schlägt, dient weiterhin dazu, um die räumlichen, zeitlichen und kausalen Beziehungen der mittelbaren Objekte untereinander aufzuspüren, d.h., von transzendentalem Standpunkte aus gesprochen, zu schaffen. (Das Anstößige des letzten Ausdruckes wird späterhin verschwinden.) Dies ist der mittelbare Verstandesgebrauch. Seine höheren Grade nennt man im praktischen Leben Klugheit, in der Wissenschaft Scharfsinn; sein Mangel heißt Dummheit, welche bisweilen mit großer Gelehrsamkeit gepaart ist.

Anmerkung. Jede große Entdeckung beruht auf dem Übergehen von einer offenkundigen Wirkung zu ihrer verborgenen Ursache (Entdeckung Amerikas, des Sauerstoffes, des Neptun); jede Erfindung ist das Aufstellen einer Ursache, welche eine als Zweck gewollte Wirkung zur Folge hat (Erfindung der Buchstabenschrift, der Buchdruckerei, der Dampfmaschine, eines lenkbaren Luftschiffes, usw.). Sonach ist der Verstand das Werkzeug, auf dessen Energie die geistige Überlegenheit beruht; viel weniger ist es die Vernunft, welche (abgesehen von der Urteilskraft), dem Gedächtnisse sehr nahe verwandt, kaum mehr als ein Gefäß ist.

§ 81
Beim unmittelbaren Verstandesgebrauche verharrt der Intellekt den Dingen gegenüber in dem, was man Rezeptivität genannt hat, beim mittelbaren sehen wir ihn zur Spontaneität übergehen. Es ist von großer Wichtigkeit, einzusehen, daß beide auf einer und derselben Reaktion gegen die Sinnesaffektionen beruhen, welche wir als Wesen des Verstandes erkannten, und daß sie nur dem Grade nach voneinander verschieden sind. Beim Anschauen verhält sich der reagierende Verstand gewissermaßen defensiv. Er begnügt sich, die Angriffe der Affektionen zurückzuschlagen, indem er sie in Raum, Zeit und Kausalität projiziert. Infolge der Steigerung des Gehirnes und seiner Widerstandskraft bei den höheren Tieren und beim Menschen geht der Verstand gleichsam aus der Defensive in die Offensive über: er schlägt nicht nur den Andrang der Wahrnehmung ab, sondern verfolgt den Angreifer bis in seine entferntesten Schlupfwinkel, d.h. er faßt die Dinge nicht nur in Beziehung zu sich selbst, sondern auch in den entferntesten Beziehungen ihres räumlichen, zeitlichen und kausalen Zusammenhanges untereinander. - Auf einer ähnlichen zur Offensive gesteigerten Reaktion des Verstandes beruht, wie wir später sehen werden, diejenige Funktion desselben, welche dem Menschen allein eigen ist und Vernunft genannt wird. Denn es ist, wie sich ergeben wird, im Grunde ein und dasselbe Vermögen, welches als Verstand den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, als Vernunft den zwischen der Anschauung und ihren Merkmalen herstellt.

Anmerkung. Ein Akt des Verstandes kann gar wohl in der Form eines logischen Vernunftschlusses (wovon später) eingekleidet erscheinen. An sich aber ist er keineswegs ein solcher, sondern immer ein intuitives und gewissermaßen instinktives Übergehen von einem Verhältnisse der anschaulichen Welt zu einem anderen mit ihm zusammenhängenden: daher ihn auch bis zu einem gewissen Grade die Tiere haben, als welche, mittels der ihnen angeborenen Funktionen des Raumes, der Zeit und der Kausalität, ganz richtig den unmittelbaren und zum Teil sogar den mittelbaren Verstandesgebrauch ausüben.

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XIV. Ob es angeborne Ideen gebe?

§ 82
Hier hellt sich nun die alte Streitfrage auf über die angeborenen Ideen, deren Dasein Cartesius und seine Schule behauptete, während Locke es bestritt; in dem Satze "no innate ideas" liegt der eigentliche Kern seiner Philosophie; wir sahen bereits (§ 65), wie derselbe bei Hume sich zu einer Konsequenz zuspitzte, deren Unhaltbarkeit in die Augen fiel; daher sie es war, durch welche Kant aus "dem dogmatischen Schlummer" aufgerüttelt und zu seinen großen Entdeckungen getrieben wurde.

§ 83
Alle abstrakten Vorstellungen entspringen, wie wir weiterhin zeigen werden, aus der Anschauung. Daher gibt es zwar keine angeborenen Ideen, wohl aber drei angeborenen Funktionen des Gehirns, Raum, Zeit und Kausalität, die eben die Natur des Intellektes ausmachen. Sie sind dem Gehirn gerade so angeboren, wie das Gehen dem Beine, das Greifen der Hand. Das Kind bringt sie fertig mit zur Welt, hat aber darum doch z.B. noch nicht sofort die Anschauung des Raumes: denn erst auf Anregung der äußern Affektionen erwacht das Vermögen des Verstandes, und seine Funktionen treten in Wirksamkeit. Durch fortgesetzten Gebrauch werden dieselben in der Folge so unmittelbar ausgeübt, daß wir uns ihrer gar nicht mehr bewußt sind; so daß die Menschheit ein paar Jahrtausende herumsuchen konnte, ehe sie sich auf das Allernächst-Liegende und gerade darum so schwer zu Findende besann. - Könnten aber Kinder uns mitteilen, was während der ersten Monate ihres Daseins in ihnen vorgeht, so würden sie Kantische Philosophie lallen.

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XV. Theorie des Traumes

§ 84
Als Wesen des Schlafes dürfte ein periodisches Auseinandertreten von Wille und Intellekt und ein dadurch verursachtes Erlöschen des bewußten Willens zu bezeichnen sein. (Näheres im zweiten Teile.) Sein System in unserem Organismus (die indriyani* der indischen Psychologie) begreift drei Teile:

1) die sensiblen Nerven der Sinnesorgane (buddhiindriyani), welche die Affektionen dem Gehirn zutragen;
2) das Gehirn, welches diese Affektionen in Anschauungen umwandelt und zu Entschlüssen bestimmt (in dieser doppelten Funktion mit dem indischen manas sich deckend);
3) die motorischen Nerven, welche vom Gehirn aus in die Tatorgana (karma-indriyani, Zunge, Hand, Fuß usw.) auslaufen, um die Ausführung der Entschlüsse durch dieselben zu regulieren.

* Die indriyani (ursprünglich "die kräftigen) sind daher häufig nicht unsere Sinne, sondern die Organe der Relation; und vijita-indriya, samyata-indriya usw. ist nicht sowohl "der bezähmte Sinne hat", als vielmehr "der bezähmten Willen hat", oder, wie Manu (2,98) es umschreibt: "dessen Wille durch die Wahrnehmungen der Sinne nicht erregt wird".

Im Wachen werden diese Teile durch den bewußten Willen in straffer Einheit zusammengehalten; im Schlafe wird der bewußte Wille latent, wodurch seine Organe gegeneinander isoliert werden; daher Homer (Od. 20,57) dem Schlafe das unübertreffliche Beiwort lysimeläs "der glieder-lösende" gibt. Auf dieser Isolation des Gehirns gegen die motorischen und sensiblen Nerven beruht es, daß wir im Schlafe weder willkürliche Bewegung noch Wahrnehmung haben. Mit der Affektion von außen erlischt nun auch die Reaktion des Verstandes, sobald die ihn etwa noch beschäftigenden Vorstellungen, durch keine äußere Affektion mehr genährt, zum Stillstande kommen, worin eben das Einschlafen besteht. Weil dasselbe durch ein Aufhören des bewußten Willens bedingt ist, können wir es nicht, wie so vieles andere, durch Willenskraft erzwingen.

§ 85
Woher kommen aber nun, nach dem Schwiegen der äußern Affektion und der von ihr unterhaltenen Phantasiebilder und Gedanken, die Träume, diese Dramen mit so plastischer Szenerie und so lebensvollen Charakteren, deren Zuschauer und Schöpfer wir im Schlafe sind? -

Nichts geschieht ohne Ursache. Keine Anschauung erfolgt ohne Affektion: also auch nicht die im Traume. Von außen kann diese Affektion im Schlafe nicht kommen, es sei denn, daß die Isolation durchbrochen würde, welches schon ein halbes Erwachen ist; somit folgt, daß die Affektionen, welche das Träumen veranlassen, aus dem Innern unseres Organismus aufsteigen. -

Folgendes können wir darüber mit vieler Wahrscheinlichkeit annehmen. Indem die Natur den Stillstand der Maschine benutzt (oder auch herbeiführt), um dieselbe auszubessern, so ereignet es sich, daß durch ihr geschäftiges Wirken und Walten gewisse leise Anstöße bis zu den Teilen des Gehirnes dringen, deren Affektion im Wachen die Anschauung der Außenwelt hervorzurufen pflegt. Indem dieselben nun (wie die Saiten eines Klaviers beim Putzen) im Schlafe von innen hin und wider ohne Regel und Zusammenhang affiziert werden, vollzieht der Verstand sofort seine gewohnten Funktionen (die Saiten erklingen) und schafft aus diesen sporadischen Affektionen, natürlich stets unter Beihilfe der Erinnerung an früher Erlebtes, die so regellose und doch so bestimmte, so wunderlich verworrene und doch so konsequent zusammenhängende Anschauung des Traumes.

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XVI. Transzendentale Auflösung der Materie

§ 86
Die Anschauung der Körperwelt, und also die Körperwelt selbst (§§ 38-40), entsteht, wie wir gesehen haben, dadurch, daß der Verstand mittels der Kausalität die Affektionen in den Raum und in die Zeit projiziert (§ 75). Somit sind die Körper durch und durch nichts anderes als Affektion, d.i. Kraft, vorgestellt als den Raum erfüllend: die materiellen Objekte sind, nach Kants trefflichem Ausrucke, krafterfüllte Räume.

Nehme ich nun die Kraft weg, bringe ich von den Körpern alles in Abzug, wodurch sie mich affizieren, so bleibt mir nichts übrig als der leere Raum. Manche werden sich durch diese Zerlegung der materiellen Objekte in Kraft und Raum vollständig befriedigt finden. Es werden diejenigen Naturen sein, bei welchen die abstrakte Erkenntnis über die anschauliche ein entschiedenes Übergewicht hat.

§ 87
Andere wiederum, bei welchen das Gegenteil der Fall ist, werden, auch wenn sie alle Kraft wegdenken, doch noch etwas mehr übrig zu behalten glauben, als den Raum, nämlich die Vorstellung einer dunkeln, verschwommenen Masse, die zwar, bei dem gänzlichen Mangel aller Kraft und somit aller Affektion, weder sichtbar noch fühlbar oder sonstwie wahrnehmbar ist, und sich dennoch als ein gewisses Etwas vor ihrem Vorstellungsvermögen behauptet. Dieses Etwas ist es eigentlich, welches man, da es nach Aufhebung aller Kraft von den Köpern übrig bleibt, der Kraft als die Materie oder als die qualitätslose Substanz entgegenstellt. Da nun mit der Kraft alles Reale, d.h. alles unabhängig von unserm Intellekt Existierende wegfällt, so kann die übrig bleibende Materie nur ein subjektives, aus den Formen unseres Intellektes entspringendes Phänomen sein. - Dasselbe entsteht wie folgt.

§ 88
Unausgesetzt ist unser Verstand beim Anschauen damit beschäftigt, die verschiedensten Wirkungen, die seine Affektionen sind, in den Raum und die Zeit zu projizieren (§ 75). Wenn ich nun (was streng genommen allerdings unausführbar ist) aus meinem Bewußtsein alle einzelnen, realen Wirkungen auslösche, so bleibt mir nichts von ihnen übrig als die allgemeine Form des Wirkens überhaupt, d.i. die Kausalität. So wie nun der Verstand fortwährend alle konkreten Wirkungen (alles Wirken energeia on) als Ursachen nach außen verlegt, so fährt er, auch wenn ich von ihm absehe, dennoch fort, die allgemeine Möglichkeit des Wirkens (das Wirken dynamei on), also die Kausalität selbst (§ 62), als den Raum erfüllend und in der Zeit beharrend anzuschauen, wo sie denn als jenes dunkle Gebilde der Materie oder Substanz erscheint. Somit hat die Materie keine eigentliche Realität, wie sogar Aristoteles einsah, wenn er sie als das dynamei on schlechthin bezeichnete; sie ist nur die Möglichkeit des Körperlich-Seins als Körper aufgefaßt, d.i. die Kausalität, angeschaut in Raum und Zeit. Sonach ist sie das objektiv angeschaute Ineinander von Raum,. Zeit und Kausalität, während dasselbe Ineinander, subjektiv aufgefaßt (wie wir § 74 sahen) den Verstand ausmacht. Die Materie ist also der objektive Widerschein des Verstandes selbst und verhält sich zu ihm wie der Raum zur Raumfunktion, die Zeit zur Zeitfunktion: ist daher im Grunde das nämliche, nur das eine Mal von empirischem, das andere Mal von transzendentalem Standpunkte aus betrachtet.

Anmerkung. Die Materie entsteht sonach, indem ich von allem konkreten Wirken abstrahiere, gerade wo wie jeder Begriff entsteht durch Abstraktion von den ihm unterliegenden Einzelvorstellungen. Merkwürdigerweise ist nun die Materie doch darum kein abstrakter Begriff, sondern ein Element der anschaulichen Welt. Ich glaube daß dies dem Platon vorschwebte, wenn er die Materie als metalambanon aporotata pä tou noätou und als hapton logismo tini notho (Tim 51 A. 52 B) bezeichnet. Das Abstrahieren ist ein Vernunftakt, logismos, der aber hier ausnahmsweise nicht zu einem Begriff, sondern zu einer Anschauung führt, daher ihn Platon als unecht, nothos, bezeichnet. (Vergl. über diese dunkle Stelle und die verschiedenen, verfehlten Erklärungsversuche meine Commentatio de Platonis Sophista, Bonn 1868, p. 32-34)

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XVII. Die Doppel-Welt der Halb-Philosophen

§ 89
Kant hatte bewiesen, daß die drei Grundsäulen der Natur, der Raum, die Zeit und die Kausalität, nichts anderes sind als die subjektiven Formen meines Intellektes: woraus unweigerlich folgt, daß die in ihnen sich darstellende materielle Welt nur die Form ist, in welcher die Dinge mir erscheinen, nicht aber wie sie an sich sind.

§ 90
Die Unwiderlegbarkeit der Kantischen Beweise anerkennend, ohne jedoch sich zu ihren unabweisbaren Folgerungen bekennen zu wollen, haben eine Reihe von Denkern nach Kant in einem sogenannten Ideal-Realismus Zuflucht gesucht. Nach demselben wären Raum, Zeit und Kausalität einerseits subjektive Funktonen des Intellektes, in denen wir die von den Dingen kommenden Affektionen auffassen und zu Vorstellungen verarbeiten, anderseits die objektive Art und Weise zu sein der Dinge selbst; so daß zwischen dem Seim der Dinge und unsern Vorstellungen von ihnen ein durchgängiger Parallelismus bestünde.

§ 91
Die Absurdität dieser Behauptung springt in die Augen; indem sie nichts anderes ist als die Annahme, daß alles Existierende doppelt vorhanden sei, so daß wir nicht eine, sondern zwei Welten vor uns hätten, welche auf ein Haar einander glichen, ohne sich doch je im geringsten zu berühren oder etwas anzugehen. Die eine dieser beiden Welten ist diese reale, anschauliche Welt, welche ich mit meinen Augen sehe und mit meinen Händen betaste: sie ist, wie wir gesehen haben, das Produkt des Bewußtseins a priori und der Empfindungen a posteriori. Hinter ihr läge, nach obiger Annahme, eine zweite, von der wir nie die mindeste Kenntnis erlangen können, und welche daher auch nirgendwo existiert, - es sei denn in der Einbildung jener Männer, deren Namen wir verschweigen.

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XVIII. Kant und die Philosophie nach ihm

§ 92
Die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich ist so alt wie die Philosophie selbst; ja, alle Philosophie, soweit sich nicht empirische Wissenschaften hinter diesem Namen verbergen, ist nur das Inne-Werden dieses großen Gegensatzes. Kant aber war es, der demselben zuerst eine wissenschaftliche Begründung gab, indem er zeigte, daß es die unserem Intellekte anhaftenden Formen des Erkennens sind, zufolge derer das An-sich-Seiende in unsern Augen als die materielle, in Raum und Zeit ausgebreitete Welt erscheint. Darum wird für alle Zeiten das Auftreten Kants als der Angelpunkt in der Geschichte der Philosophie dastehen, und jeder, der in Zukunft philosophieren will, wird verpflichtet sein, sich vor allem mit seiner Lehre auseinanderzusetzen. - Der Kern derselben ist das transzendentale Dogma von der Apriorität des Raumes, der Zeit und der Kausalität; jeder hat sich zu entscheiden, ob er es annehmen oder verwerfen will. Zwei Gründe und nicht mehr können zu seiner Verwerfung bestimmen; zwei Wege und nicht mehr eröffnen sich denen, die es annehmen. Hiernach zerfallen die Philosophen nach Kant in vier Klassen, welche alle Denker der Gegenwart und der Zukunft in sich begreifen.

§ 93
Diejenigen, welche die genannte Lehre Kants verwerfen, können dazu zwei Gründe haben: entweder, sie vermögen sich nicht von der Gültigkeit der Kantischen Beweise überzeugen - in diesem Falle ladet unsere Darstellung derselben sie zu erneuter Prüfung ein; oder sie gehen ihren Weg, indem sie Kants Entdeckungen ignorieren - sie werden für gut finden, daß wir es mit ihnen ebenso halten.

§ 94
Unter denen, welche Kants Grundlehre sich aneignen, unterscheiden wir diejenigen, welche sie zwar annehmen, aber ihren Folgerungen ausweiche - von ihnen war im vorigen Kapitel die Rede; und diejenigen, welche Mut genug hatten, nicht nur das transzendentale Dogma, sondern auch die Folgesätze, die sich aus ihm notwendig ergeben, anzuerkennen.

Den letzeren Weg ging Schopenhauer. Er steht in vielfacher, merkwürdiger Hinsicht zu Kant, wie Platon zu Sokrates; alle andern sind höchstens mit den sogenannten "unvollkommenen Sokratikern" zu vergleichen.

Auf einen Aristoteles wartet nicht! - Tausend fleißige Hände regen sich in allen Winkeln der empirischen Wissenschaften. Noch eine kleine Weile und alle Welt - a pipilikabhyas - wird en Tag wahrnehmen, der angebrochen ist. Möchte bei der bevorstehenden heilsamen Revolution, welche Schopenhauers Lehre in den empirischen Wissenschaften veranlassen wird, die Tiefe des Schopenauerschen Gedankens nicht so verschüttet werden, wie die des Platonischen durch Aristoteles!

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Anhang zum ersten Teile der Metaphysik:

Die Vernunft und ihr Inhalt

XIX. Übersicht

§ 95
Vernunft heißt ein dem Menschen allein eigenes Vermögen, aus den anschaulichen Vorstellungen durch Fallenlassen des Unterschiedlichen und Festhalten des Indentischen die abstrakten Vorstellungen oder Begriffe herauszuziehen (zu abstrahieren), sowie ferner die Begriffe zu Urteilen, die Urteile zu Schlüssen zu verbinden. Im Gegensatze zum anschaulichen Erkennen wird das Operieren mit Begriffen Denken genannt.

§ 96
Da die Begriffe als Schwingungen der Hirnzellen, oder was sie sonst sein mögen, nicht wahrnehmbar sind, so bedürfen wir, behufs ihrer Mitteilung, eines äußeren Vehikels: es sind dies die Worte der Sprache, bestehend in gewissen spezifischen Erschütterungen der Luft, welche durch den von den Organen der Mundhöhle (Kehle, Gaumen, Zunge, Zähne, Lippen) mannigfach modifizierten Klang der Stimme hervorgebracht werden. Durch ihren aus vielfältiger Verbindung weniger Elemente entspringenden, erstaunlichen Reichtum bieten sie ein hinreichendes Material, um sowohl die Begriffe als auch ihre Beziehungen zueinander bis in die feinsten Nuancen sinnlich abzubilden und so dem andern mitzuteilen.

§ 97
Das Sprechen ist sonach die Wahrnehmbarkeit des Denkens. Nun ist das Denken bei allen Menschen wesentlich das gleiche, wohingegen die Sprache bei den verschiedenen Völkern die größten Unterschiede zeigt; welches auffallend und nicht leicht zu erklären ist. Die Logik stellt überall die nämlichen Aufgaben: die Frage, wie dieselben von den verschiedenen Sprachen gelöst worden sind, führte notwendig zur vergleichenden Grammatik. Diese hat damit begonnen, aus der korrumpierten Form der historischen Sprachen die zugrunde liegenden Ursprachen zu erschließen: womit aber das Problem nicht gelöst, sondern erst recht deutlich geworden ist.

§ 98
Eine eingehende Erörterung dieser Verhältnisse ist die Aufgabe der Logik und Grammatik; wir beschränken uns darauf, im folgenden 1) nachzuweisen, wie die Begriffe, aus denen aller Inhalt der Logik beruht, aus der Anschauung entspringen, 2) zu erklären, wie die Funktionen der Vernunft in dem durchaus einheitlichen Reaktionsvermögen der Erkenntnis wurzeln, 3) den Unterschied zwischen Mensch und Tier aus dem sie allein unterscheidenden Vermögen der Begriffe abzuleiten, 4) über den Ursprung der Sprache einige Vermutungen mitzuteilen.

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XX. Ursprung und Wesen der Begriffe

§ 99
Es ist sehr merkwürdig, daß die Natur nicht durchweg mit sich selbst gleich, auch nicht in allen Teilen ganz und gar verschieden ist, sondern Identisches und Nicht-Identisches in buntem Gemische darbietet. Hier sehe ich eine rote, dort eine blaue Blume; demselben Blau begegne ich wieder am Himmel, am Gefieder des Vogels, an Gesteinen, die doch gar nicht mit der Blume zu tun haben, während alle diese Gegenstände widerum vieles gemein haben mit anderen, von denen sie im übrigen ganz verschieden sind. So bemerke ich vielfach identische Erscheinungen an verschieden Orten und zu verschiedenen Zeiten. Dieselben müssen wohl in einer geheimen Beziehung zueinander stehen; denn wie kämen sie sonst dazu identisch zu sein? - Dieser Gedanke ist die Pforte, durch welche Platon zur Metaphysik einging. In diesem Sinne später davon. Gegenwärtig kommt für die Natur als Ineinander von Identischem und Nicht-Identischem nur insofern in Betracht, als auf dieser Eigentümlichkeit die Bildung der Begriffe beruht.

§ 100
Auch die Tiere nehmen das Gleiche und Ungleiche an den Dingen wahr; oft sogar genauer als der Mensch. Der Hund, welcher mit dem Jäger den Wald durchstreift, unterscheidet schärfer als sein Herr das Wildbret von der gleichfarbigen, schützenden Umgebung; auch scheidet er ohne Frage genau die Eiche vom Tannenbaum. Aber sein geringer entwickeltes Gehirn reagiert nicht kräftig genug, sein Verstand setzt sich nicht selbständig genug den Dingen gegenüber, um etwas anderes an denselben zu beachten als die Beziehungen, welche augenblicklich für seinen Willen von Interesse sind. Anders der Mensch. Wenn er im Eichwalde beobachtet, wie die Bäume ringsumher, trotz aller Verschiedenheit im einzelnen, etwas Identisches an sich haben, so geht er dazu fort, die Anschauung in ihre identischen und nicht-identischen Elemente zu zerlegen; und indem er nun von dem Nicht-Identischen abstrahiert, das Identische hingegen in der Vorstellung festhält, steigt er von den verschiedenen anschaulichen Eichbäumen zum Begriff der Eiche auf.

§ 101
Dies ist der Vorgang bei der Bildung eines Begriffes. Der innerste Grund aber für die Zerstörung, die wir mit der Anschauung vornehmen, um die Begriffe zu gewinnen (ähnlich, wie wenn wir die kunstvoll gebildeten Organismen der Tiere vernichten, um ihr Fleisch zu essen), liegt darin, daß es natürliche Bestimmung des Intellektes ist, ein Werkzeug des Willens zu sein. Für diesen nämlich haben nicht die Dinge, sondern nur ihre Beziehungen zu ihm Interesse. Von diesem Standpunkte aus zerfällt die wundervolle Kontinuität der Anschauung in eine Anzahl möglicher Beziehungen, welche man, sehr charakteristisch, Merkmale nennt. Sie sind die Vorräte, welche der Wille in der Vorratskammer der Vernunft wohlgeordnet aufspeichert, zu künftigem Gebrauche. - Wäre unser Intellekt nicht ein Diener des Willens, so würden wir wahrscheinlich keine Begriffe bilden.

§ 102
Die Summer der Merkmale eines anschaulichen Gegenstandes ist unendlich groß. Das Gemeinsame desselben mit einem andern dagegen beschränkt sich, wenigstens für unsere Auffassung, auf wenige einzelne Merkmale. Weil bei den Objekten der Raum, den sie erfüllen, stets verschieden ist, auf der Raumerfüllung aber die Anschaulichkeit beruht, so büßen die Begriffe, welche von allem Verschiedenen absehen (§ 100), die Anschaulichkeit ein. (Man hüte sich, sie zu verwechseln mit den Phantasiebildern, welche zwar anschaulich, dafür aber auch nur einzelne Repräsentanten der Begriffe sind und allemal vieles enthalten, was nicht allen Gegenständen ihrer Art gemeinsam ist.)

§ 103
Die Begriffe der Eiche, Buche, Tanne bestehen jeder aus einer Anzahl von Merkmalen, welche teils verschieden, teils bei allen dreien die nämlichen sind. Lasse ich nun die an ihnen nicht-identischen Merkmale fallen und halte nur die identischen fest, so gelange ich zu dem an Umfang reicheren, an Ihnalt der Merkmale ärmeren Begriff des Baumes, welcher Eichen, Tannen und Buchen ebenso unter sich befaßt, wie diese die einzelnen, realen Gegenstände ihrer Art. Durch dasselbe Verfahren steige ich vom Begriff des Baumes auf zu dem der Pflanze, von ihm zu dem des Organismus, von diesem zu dem des Körpers und endlich zum Begriffe der Substanz oder des Seins. Dieser Begriff hat einen überaus großen Umfang: denn er enthält alles Seiende unter sich; um so dürftiger aber ist sein Inhalt: erbeschränkt sich auf ein einziges Merkmal. Eben deswegen kann er keinen allgemeineren Begriff mehr über sich haben. In ähnlicher Weise kann ich von den Wahrnehmungen des Roten, Runden, Kalten, Bittern, Wohlriechenden usw. aufsteigen bis dem allgemeinsten, weil auf ein Merkmal beschränkten, Begriffe der Qualität.

§ 104
Solche allgemeinste Begriffe werden nach Aristoteles Kategorien genannt; derselbe stellte ihrer zehn auf:
ousia, poson, poion, pros ti, pou, pote, keisthai, echein, poiein, paschein (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Verhalten, Tun, Leiden), während in Indien Kanada eine Klassifikation der Dinge unter sechs Kategorien vornahm, die er pada-arthas (d.h. Wortdinge, den Worten entsprechende Wesenheiten, Begriffe) nannte. Sie sind: dravya, guna, karman, samanya, vicesha, samavay (Substanz, Qualität, Wirken, Gemeinsamkeit, Unterschied, Ineinandersein). - Es dürfte möglich sein, mit drei Kategorien auszukommen: 1) Substanz (ousia - dravya), 2) Qualität (poson, poion - guna), 3) Relation (pros ti - samanya, vicesha, smavaya), indem pou und pote, wie Kant bemerkt, nicht Begriffe, sondern Anschauungen sind, und die Verbalkategorien (keisthai, echein, poiein, paschein - karman) sich auf die genannten zurückführen lassen, mittels Abtrennung der Kopula, welche nicht Begriff, sondern sprachliche Zeichen einer Begriffsverbindung ist.

§ 105
Das ganz System der Begriffe bis zu den Kategorien hinauf ist sonach aus der Anschauung geschöpft und läßt sich vergleichen einer Anzahl von ineinandergefügten Pyramiden, deren gemeinsame, sehr breite Basis auf der Anschauung ruht, von welcher man, durch fortgesetztes Zusammenfassen mehrerer Artbegriffe unter einen Gattungsbegriff, aufsteigt von Gipfel zu Gipfel bis zu den wenigen höchsten, von den Kategorien gebildeten, Spitzen. - Blicken wir hinwiederum aus der Vogelperspektive auf diese Kategoriengipfel und durch sie hindurch auf die Grundfläche hinab, so werden sich alle Spitzen der Haupt- und Nebenpyramiden auf der Basis projizieren, - und da liegen sie auch in Wirklichkeit: denn wenn die allgemeinen Begriffe die speziellen unter sich befassen, so tragen hingegen die speziellen Begriffe die allgemeinen bis hinauf zu den Kategorien als Merkmale in sich (Umfang und Inhalt der Begriffe)

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XXI. Einiges über Verbindungen der Begriffe

§ 106.
Jedes Urteil ist die Verbindung zweier (mehr oder weniger komplizierter) Begriffe, in der Weise, daß der eine (das Prädikat) von dem andern (dem Subjekte) ausgesagt wird (katägoreitai, praedicatur) oder auch (in den verneinenden Urteilen) ihm abgesprochen wird.

§ 107
Ein Urteil ist analytisch, wenn er Subjektbegriff den Prädikatbegriff als Merkmal in sich enthält, so daß ich letzeren nur aus ersterem herauszuziehen brauche (z.B. die Rose ist eine Blume); es ist synthetisch, wenn ich durch die Verbindung der Begriffe ein Verbundensein zweier Elemente der anschaulichen Welt bezeichnen will, welches nicht bereits in meinem Begriffe vom Subjekte enthalten ist (z.B. die Rose ist rot). Um analytische Urteile zu bilden, bedarf ich daher nur des durch frühere Erfahrung im Systeme meiner Begriffe aufgespeicherten Wissens und keiner neuen Erfahrung: in diesem Sinne kann man sagen, daß alle analytischen Urteile a priori, d.h. von der Erfahrung (mit Ausnahme der früher gemachten) unabhängig sind. Synthetische Urteile hingegen zeigen allemal eine nicht in den Begriffen selbst, also nur in der Anschauung liegenden Verbindung von Merkmalen an. Sie würden daher sämtlich a posteriori sein, wenn nicht, wie wir gesehen haben (§§ 42-68), gewisse Elemente der Anschauung a priori wären. Auf diese gründen sich die synthetischen Urteile a priori in den mathematischen Wissenschaften (§§52- 59. 66). - Diese Bemerkung ist wichtig für die Metaphysik, weil sie der Ausgangspunkt Kants in der "Kritik der reinen Vernunft" gewesen ist.

§ 108
Alles was wir denken, alles was wir (mittels der Worte) sprechen und hören, schreiben und lesen, sind Begriffe, meist zu Urteilen verbunden; es ist eine empfehlenswerte Übung, irgendein Buch aufzuschlagen und eine stelle desselben zu zerlegen in lauter durch mannigfache Nebenbestimmungen modifizierte Begriffe, welche durch die (meist im Verbum liegende) Kopula miteinander verbunden sind.

Anmerkung. Es ist das Verdienst der Griechen, eine Syntax geschaffen zu haben, welche die monotone Verbindung von Subjekt und Prädikat, in der das Wesen des Satzes besteht, durch eine reiche Fülle sprachlicher Kunstmittel versteckt; von ihr hängt im Grunde die Syntax aller Kultursprachen Europas ab; wohingegen die Inder durch den Reichtum der Kasus-Formen und die außerordentliche Kompositionskraft ihrer Sprache sich verleiten ließen, zumal in der wissenschaftlichen Prosa, Subjekt und Prädikat nebst ihren Nebenbestimmungen durch lange Komposita auszudrücken, wodurch ihr Satzbau in hohem Grade logisch, aber auch, für das Studium, überaus ermüdend ist.

§ 109 Das Prädikat eines Subjekt-Begriffes ist natürlich auch gültig für alle Begriffe, die unter dem Subjekt-Begriffe enthalten sind (z.B. wenn alles Existierende von Gott geschaffen ist, so ist es auch das Böse; da sein Begriff unter dem des Existierenden enthalten ist). Hierauf beruht die Möglichkeit, aus allegemeinen Urteilen besondere herauszuziehen: eine Tätigkeit, die wir beim Denken fortwährend ausüben. Ihre methodische Form ist der Schluß (nyaya, syllogismos), dessen drei oder, wenn man will, vier Figuren und neunzehn Modi wir hier übergehen.

§ 110
So wie alle Begriffe ohne Ausnahme aus der Anschauung geschöpft sind, so fußt auch jedes richtige Urteil im letzten Grunde immer auf einem Verhältnisse der anschaulichen Welt, sei es daß das Urteil unmittelbar aus der Anschauung entspringt, sei es daß es durch Deduktion aus einem allgemeineren Urteile abgeleitet ist (§ 109), welches wiederum durch Induktion aus der Anschauung gewonnen wurde. - Das methodische Zurückführen eines Satzes auf einen andern un mittels desselben auf die Anschauung heißt Beweis. Die Anschauung selbst aber ist der Grund, auf dem alle Urteile und Beweise, unmittelbar oder mittelbar, ruhen; sie läßt sich daher nicht weiter beweisen, d.h. auf ein anderes, Gewisseres zurückführen, bedarf dessen auch nicht. Wohl aber greifen wir zum Beweise, wenn es sich darum handelt, aus den zugänglichen Datis der Anschauung andere Verhältnisse abzuleiten, welche zwar auch in der Anschauung liegen, sich aber unserer Beobachtung entziehen, sei es daß sie uns zeitlich und räumlich zu fern liegen, sei es daß ihre Beziehungen zu fein un schwebend sind, um mittels der bloßen Anschauung mit Sicherheit erfaßt und festgehalten zu werden, worauf z.B. die Berechtigung der Beweise des Eukleides in der Mathematik sich gründet, welche Schopenhauer nicht anerkennen wollte.

§ 111
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß alle Begriffe und alle Urteile aus der Anschauung entspringen. (Als alleinige Ausnahme kann man die sogenannten Denkgesetze sowie die ihnen verwandten abstrakten Kategorien Kants ansehen, in denen aber auch kein Inhalt, sonder nur die allgemeine Form des begrifflichen Erkennens sich ausdrückt.) - Sonach sind die abstrakten Vorstellungen in Physik wie in Metaphysik nur anzusehen als ein Werkzeug, mittels dessen wir die anschauliche Welt fassen: diese selbst mit ihrem Inhalte ist der alleinige Gegenstand aller Wissenschaften (mit Ausnahme der Logik), und nur die in ihr liegenden Verhältnisse dürfen der Leitstern zu aller Wahrheit sein.

§ 112
Die Verkennung dieses Grundsatzes hat die schwersten Verirrungen der Metaphysik verschuldet, sei es daß man, wie Zenon tat, aus der Mangelhaftigkeit des mosaikartigen und sprungweise sich bewegenden Begriffsvermögens auf "Widersprüche" der Anschauung schloß, welche weder spricht noch widerspricht, sei es daß man, wozu Aristoteles und Kant den Anstoß gaben, die Begriffe, weil wird durch sie das Wesentliche der Anschauung festhalten, für die genetischen Prinzipien der realen Welt ansah. - Beide Verirrungen haben in der kantischen Philosophie den Grund zu Systemen gegeben, welche für einige Zeit die Aufmerksamkeit und den Beifall der Zeitgenossen auf sich zu lenken wußten.

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XXII. Ob die Vernunft ein besonderes physiologisches Organ sei?

§ 113
Alles Existierende ist materiell (§ 11); folglich auch der Intellekt * (§§ 26.27). Gehirn und Intellekt sind zwei Namen für dieselbe Sache; sie rühren davon her, daß im vorliegenden Falle das Organ und seine Funktionen auf zwei entgegengesetzten Wegen erkannt werden: die Psychologie kennt nur die Funktionen, die Physiologie bis jetzt fast nur das Organ. Beide Betrachtungswiesen reichen sich die Hand und widersprechen sich nicht.

* Primum animum dico, mentem quem saepe vocamus
in quo consilium vitae regimenque locatum est, 
esse hominis partem nihilo minus ac manus et pes 
atque oculei partes animantis totius extant. (Lucretius III, 94-97)

[Also sag' ich zuerst, der Geist, den auch öfters Verstand wir
Nennen, welcher den Rat und das Steuer führet im Menschen, 
Sei von diesem ein Teil, wie Hand und Fuß und die Augen 
Immer nur sind ein Teil des ganzen belebeten Wesens.]

Übersetzung: Egon Gottwein (http://www.gottwein.de/)

§ 114
Nun hat uns die Psychologie zwei Arten von Funktionen des menschlichen Intellektes kennen gelehrt: die des Anschauens und die des Denkens. Die Frage ist, ob dieselben als Äußerungen desselben Vermögens oder verschiedener Vermögen zu betrachten sind, ob Verstand und Vernunft zwei besondere physiologische Organe, oder nur zwei spezifisch verschiedene Funktionen desselben Organes seien?

§ 115
Folgende Gründe bestimmen uns, das Letztere anzunehmen und dadurch die Einheit des menschlichen Erkenntnisvermögens aufrecht zu halten, welche für unsere späteren Betrachtungen von Wichtigkeit ist:

1) Der Bau des menschlichen Gehirnes stimmt in allen wesentlichen Stücken mit dem bei den oberen Tieren überein, wenn er auch die einzelnen Teile in anderen Verhältnissen und in ungleich höherer Entwicklung zeigt. Hieraus möchten unwissende Physiologen den Schluß ziehen, daß doch auch die Tiere bis zu einem gewissen Grade "denken" (!) müßten. Wir aber schließen daraus, daß das Denken nur ein besonderes, dem Menschen eigenes Verhalten des anschauenden Vermögens, d.h. des Gehirnes ist.

2) Der Erkenntnis dient wahrscheinlich nur ein einziges Organ in unserm Kopfe: das sogenannte große Gehirn. Wir würden an seiner Stelle zwei Organe finden, wenn Verstand und vernunft zwei verschiedene Vermögen wären.

3) Unser Erkennen ist ein fortwährendes Subsumieren der Anschauungen unter Begriffe. Mit der größten Leichtigkeit und ohne jedes Gefühl der Unterbrechung gehen wir vom Anschauen zum Denken, vom Denken zum Anschauen über. Schwerlich wäre dies möglich, wenn beide an zwei entgegengesetzte Organe verteilt wäre.

4) In der Stufenleiter der Wesen sehen wir die Entwicklung des Intellektes mit der des im Gehirn zentralisierten Nervensystems gleichen Schritt halten. Je vollkommener das Gehirn gebildet ist, um so energischer vollzieht der Verstand seine Aufgabe, um so kräftiger reagiert er gegen die andringende Affektion (§ 74), wodurch die Erzeugnisse dieser Reaktion, die vorgestellten Dinge, immer deutlicher sich von dem erkennenden Subjekte ablösen, immer selbständer und objektiver ihm gegenübertreten. - Die Pflanze ist noch ohne alle Erkenntnis. Sie reagiert daher gar nicht (in dem Sinne, welchen wir mit diesem Worte verbinden) gegen die äußere Affektion; vielmehr fallen bei ihr das Empfangen der Einwirkung und das Bestimmtwerden durch dieselbe ganz zusammen, worin, im tiefsten Grunde, das Wesen des Reizes (§20,2) beruht. Beim Tiere treten beide Elemente auseinander: dasselbe reagiert gegen die äußeren Eindrücke, jedoch nur so weit, wie nötig ist, um sich von den Dingen zu unterscheiden, d.h. um zwischen sich und den Dingen (sowie teilweise schon zwischen den Dingen untereinander) den aus den Formen des Intellektes entspringenden, räumlichen, zeitlichen und kausalen Zusammenhang herzustellen (§80). Jedoch bleibt der tierische Intellekt gleichsam noch ganz mit den Dingen verwachsen, daher das Tier, in jedem Augenblicke, von den umgebenden Eindrücken völlig abhängig ist. Vom Tiere zum Menschen tut nun die Natur den letzten in dieser Hinsicht möglichen Schritt, indem sie das Reaktionsvermögen des Intellektes bis zu dem Grade steigert, daß die Dinge dem erkennenden Ich völlig objektiv gegenübertreten. Hierdurch steigert sich auf subjektiver Seite das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, auf objektiver Seite wird es dem Intellekte möglich, die Anschauung, weil er selbst von ihr losgetrennt ist, in ihre Elemente, die Merkmale, zu zertrennen und die letzteren in neuen Verbindungen als Begriffe zusammenzufassen und festzuhalten, worauf der ganze Mechanismus der Vernunft beruht.

§ 116
Es ist daher im tiefsten Grunde ein und dasselbe Reaktionsvermögen, welches stufenweise sich steigernd, als unmittelbarer Verstandesgebrauch den Zusammenhang zwischen den Affektionen des Subjektes und der Außenwelt, als mittelbarer Verstandesgebrauch den Zusammenhang der Objekte der Außenwelt untereinander, und als Urteilskraft den Zusammenhang der Anschauung und ihrer in den Begriffen klassifizierten Merkmale herstellt.

...Fortsetzung folgt in Kürze...

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