ANEIGNUNG UND POLEMIK
 

Schopenhauer-Lexikon

Ein philosophisches Wörterbuch,

nach

Arthur Schopenhauers

sämmtlichen Schriften und handschriftlichem Nachlaß bearbeitet

von

Julius Frauenstädt

Leipzig: Brockhaus 1871


A: Aberglaube - Abrichtung - Absolut - Abstract


Aberglaube

1) Das Wort "Aberglaube".

Das Wort "Aberglauben" und "Aberwitz" sind wahrscheinlich entsprungen aus "Überglauben" und "Überwitz", unter Vermittlung von "Oberglauben" und "Oberwitz" (wie Überrock - Oberrock, Überhand - Oberhand) und sodann durch Corruption des O in A, wie umgekehrt in "Argwohn" statt "Argwahn". (P. II, 610)

2) Quelle des Aberglaubens.

Durch die Vernunft dem Gedanken zugänglich geworden, steht der Mensch dem Irrthum und damit dem Wahne, dem Aberglauben offen (s. Irrthum). Denn in den Gedanken, den abstracten Begriff geht alles nur Ersinnliche, mithin auch das Falsche, das Unmögliche, das Absurde, das Unsinnige. Da nun Vernunft Allen, Urtheilskraft Wenigen zu Theil geworden ist, so ist die Folge, daß der Mensch dem Wahne offen steht, indem er allen erdenklichen Chimären Preis gegeben ist, wovon die superstitiösen Dogmen und Cultushandlungen der verschiedenen Religionen zahlreiche und auffallende Beispiele liefern. (W. II, 73-75)

3) Aberglaube, dem wahrer Glaube zu Grunde liegt.

Der Glaube an geheimnißvolle übernatürliche Wirkungen, an Sympathie und Magie, an Geistererscheinungen, omina usf. ist nicht schlechthin als Aberglauben zu verwerfen, wiewohl er beim Volke stark mit dem Aberglauben vermischt vorkommt. Es liegt allem diesen Glauben metaphysische Wahrheit zu Grunde. Um über alle geheime Sympathie oder gar magische Wirkung vorweg zu lächeln, muß man die Welt gar sehr, ja ganz und gar begreiflich finden. Das kann man aber nur, wenn man mit überaus flachem Blick in sie hineinschaut, der keine Ahndung davon zuläßt, daß wir in ein Meer von Räthseln und Unbegreiflichkeiten versenkt sind und unmittelbar weder die Dinge noch uns selbst von Grund aus kennen und verstehen. Die dieser Gesinnung entgegengesetzte ist es eben, welche macht daß fast alle großen Männer, unabhängig von Zeit und Nation, einen gewissen Anstrich von Aberglauben verrathen haben. (N. 109)
Der Gespensterglaube ist dem Menschen angeboren; er findet sich zu allen Zeiten und in allen Ländern, und vielleicht ist kein Mensch ganz frei davon. Der große Haufe und das Volk, wohl aller Länder und Zeiten, unterscheidet Natürliches und Übernatürliches, als zwei grundverschiedene, jedoch zugleich vorhandene Ordnungen der Dinge. Dem Übernatürlichen schreibt er Wunder, Weissagungen, Gespenster und Zauberei unbedenklich zu, läßt aber überdies auch wohl gelten, daß überhaupt nichts durch und durch bis auf den letzen Grund natürlich sei, sondern die Natur selbst auf einem Übernatürlichen beruhe. Im Wesentlichen fällt nun diese populäre Unterscheidung zusammen mit der Kantischen zwischen Erscheinung und Ding an sich; nur daß diese die Sache genauer und richtiger bestimmt, nämlich dahin, daß Natürliches und Übernatürliches nicht zwei verschiedene und getrennte Arten von Wesen sind, sondern Eines und Dasselbe, welches an sich genommen übernatürlich zu nennen ist, weil erst, indem es erscheint, d.h. in die Wahrnehmung unseres Intellects tritt und daher in dessen Formen eingeht, die Natur sich darstellt, deren phänomenale Gesetzmäßigkeit es eben ist, die man unter dem Natürlichen versteht. (P. I, 284 fg.)
Wie dem Gespensterglauben, so liegt auch dem Glauben an Omina, der so allgemein und unvertilgbar ist, daß er selbst in den überlegensten Köpfen nicht selten Raum gefunden hat, Wahrheit zu Grunde. Denn da nichts absolut zufällig ist, vielmehr Alles nothwendig eintritt und sogar die Gleichzeitigkeit selbst des causal nicht Zusammenhängenden, die man den Zufall nennt, eine notwendige ist, indem ja das jetzt Gleichzeitige schon durch Ursachen in der entferntesten Vergangenheit als ein solches bestimmt wurde; so spiegelt sich Alles in Allem, klingt Jedes in Jedem wieder. Der unvertilgbare Hang des Menschen, auf Omina zu achten, seine extispicia und ornithoskopia, [Eingeweideschau und Vogelschau], sein Bibelaufschlagen, sein Kartenlegen, Bleigießen, Kaffeesatz beschauen und dgl.m. zeugen von seiner, den Vernunftgründen trotzenden Voraussetzung, daß es irgend wie möglich sei, aus dem ihm Gegenwärtigen und klar vor Augen Liegenden das durch Raum oder Zeit Verborgene, also das Entfernte oder Zukünftige, zu erkennen; so daß er wohl aus Jenem Dieses ablesen könnte, wenn er nur den wahren Schlüssel der Geheimschrift hätte. (P. I, 230 fg.) Auf der, wenn auch nicht deutlich erkannten, doch gefühlten Überzeugung von der strengen Nothwendigkeit alles Geschehenden beruht die bei den Alten so fest stehende Ansicht vom Fatum, der heimarmenä, wie auch der Fatalismus der Mohammedaner, sogar auch der überall unvertilgbare Glaube an Omina, weil eben selbst der kleinste Zufall nothwendig eintritt und alle Begebenheiten, so zu sagen, miteinander Tempo halten, mithin Alles in Allem wiederklingt. Endlich hängt sogar dies damit zusammen, daß, wer ohne die leiseste Absicht und ganz zufällig einen Andern verstümmelt oder getödtet hat, dieses Piaculum sein ganzes Leben hindurch betrauert, mit einem Gefühl, welches dem der Schuld verwandt scheint, und auch von Andern als persona piacularis (Unglücksmensch) eine eigene Art von Discredit erfährt. (E. 60fg.)
Wendet man die Übereinstimmung zwischen dem Mechanismus und der Technik der Natur, oder dem nexus effectivus und dem nexus finalis, demzufolge die Naturproducte sich ebenso rein causal als teleologisch erklären lassen (s. Teleologie), auf den Lebenslauf des Menschen an, so wird die Möglichkeit der omina, praesagia, portenta begreiflich. Das, was nach dem Laufe der Natur nothwendig eintritt, ist alsdann doch andererseits wieder anzusehen als für den Lebenslauf des Einzelnen berechnet, bloß in Bezug auf ihn geschehend und existirend: wonach dann das Natürliche und usächlich nachweisbar Nothwendige eines Ereignisses das Ominose desselben keineswegs aufhöbe und ebenso dieses nicht jenes. Daher sind Die ganz auf dem Irrwege, welche das Ominose eines Ereignisses dadurch zu beseitigen vermeinen, daß sie die Unvermeidlichkeit seines Eintritts darthun, indem sie die natürlichen und nothwendig wirkenden Ursachen desselben nachweisen. Denn an diesen zweifelt kein vernünftiger Mensch, und für ein Mirakel will Keiner das Omen ausgeben; sondern gerade daraus, daß die ins Unendliche hinaufreichende Kette der Ursachen und Wirkungen mit der ihr eigenen, strengen Nothwendigkeit und unvordenklichen Prädestination den Eintritt dieses Ereignisses in solchen bedeutsamen Augenblick unvermeidlich festgestellt hat, erwächst demselben das Ominose. (P. I, 236 fg. W. II, 384.) Andererseits jedoch sehen wir mit dem Glauben an die Omina auch der Astrologie wieder die Thür geöffnet, da die geringste als ominos geltende Begebenheit durch eine ebenso unendlich lange und ebenso streng nothwendige Kette von Ursachen bedingt ist, wie der berechbare Stand der Gestirne zu einer gegebenen Zeit. (P. I, 236)

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Abrichtung

1) Abrichtung der Thiere.

Die Abrichtung (Dressur) der Thiere beruht auf der Benutzung ihres Erinnerungsvermögens und der bei ihnen überaus starken Macht der Gewohnheit (s. Gewohnheit). Das Erinnerunsvermögen der Thiere ist, wie ihr gesammter Intellect, auf das Anschauliche beschränkt und besteht zunächst blos darin, daß ein wiederkehrender Eindruch sich als bereits dagewesen ankündigt, indem die gegenwärtige Anschauung die Spur einer frühern auffrischt; ihre Erinnerung ist daher stets durch das jetzt wriklich Gegenwärtige vermittelt. Dieses regt aber eben deshalb die Empfindung und Stimmung, welche die frühere Erscheinung hervorgebracht hatte, wieder an. Demnach erkennt der Hund die Bekannten, unterscheidet Freunde und Feinde, findet den einmal zurückgelegten Weg, die schon besuchten Häuser leicht wieder und wird durch den Anblick des Tellers pder den des Stocks sogleich in die entsprechende Stimmung versetzt. Auf der Benutzung dieses anschauenden Erinnerungsvermögens und der bei den Thieren überaus starken Macht der Gewohnheit beruhen alle Arten der Abrichtung (W. II, 63.) Das Thier wird durch den gegenwärtigen Eindruck bestimmt; nur die Furcht vor dem gegenwärtigen Zwange kann seine Begierde zähmen, bis jene Furcht endlich zur Gewohnheit geworden ist und nunmehr als solche es bestimmt: das ist Dressur. (W. I, 44.) Die Dressur ist demnach die durch das Medium der Gewohnheit wirkende Furcht. (E. 34 und P. II, 620.) Sie macht nur eine scheinbare Ausnahme von der Bestimmbarkeit der Thiere durch blos anschauliche und gegenwärtige Motive. (E. 34.)
Von der menschlichen Erziehung ist die Abrichtung gerade so verschieden wie Anschauen vom Denken (W. II 63.)

2) Abrichtung des Menschen

Bei Menschen tritt häufig an die Stelle der Erziehung und Bildung eine Art von Abrichtung, namentlich beim großen Haufen. Sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr frühzeitiges Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft da wären, das Werk zu stören (W. II, 74.) Ja, der Mensch übertrifft sogar an Abrichtungsfähigkeit alle Thiere. Die Moslems sind abgerichtet, fünfmal des Tages das Gesicht gegen Mecka gerichtet, zu beten; thun es unverbrüchlich. Christen sind abgerichtet, bei gewissen Gelegenheiten ein Kreuz zu schlagen, sich zu verneigen u. dgl.; wie denn überhaupt die Religion das rechte Meisterstück der Abrichtung ist, nämlich die Abrichtung der Denkfähigkeit. (P. II, 638)
Wie die Abrichtung der Thiere, so gelingt auch die des Menschen nur in früher Jugend vollkommen. (P. II, 638.)

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Absolut. Das Absolute.

1) Der Begriff des Absoluten hat Realität allein an der Materie

Versteht man unter dem so viel gebrauchten Ausdruck Absolutum Das, was nie entstanden sein, noch jemals vergehen kann, woraus hingegen Alles, was existirt, besteht und geworden ist, so hat man dasselbe nicht in imaginären Räumen zu suchen, sondern es ist ganz klar, daß jenen Anforderungen die Materie gänzlich entspricht. (P. II, 114.) Das Prädicat absolut hat an der Materie seinen alleinigen Beleg, dadurch es Realität erhält und zulässig ist, außerdem es ein Prädicat, für welches gar kein Subject zu finden, mithin ein aus der Luft gegriffener, durch nichts zu realisirender Begriff sein würde. (E.Vorr. XXVI.) Besser als alle erfaselten Nebelgestalten jener seit Kant versuchten Philosophie, deren alleiniges Thema das Absolute bildet, entspicht den Anforderungen an ein solches die Materie. Diese ist unentstanden und unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod per se est et per se concipitur [was durch sich ist und durch sich begriffen wird. Spinoza]. Aus ihrem Schooß geht Alles hervor und Alles in ihn zurück: was kann man von einem Absoluten weiter verlangen? (W. I, 574.)

2) Wie das Absolute nicht zu denken ist

Das Absolute ist nicht als erste Ursache zu denken, weil es eine erste Ursache überhaupt nicht gibt. (s. Ursache). Es ist auch nicht als das Unbedingt-Nothwendige zu denken, weil Nothwendigsein durchaus und überall nichts Anderes besagt als aus einem Grunde folgen, ein solcher also die Bedingung aller Nothwendigkeit und mithin das Unbedingt-Nothwendige eine contradictio in adjecto, also gar kein Gedanke, sondern ein hohles Wort ist. (P. I. 199) Endlich ist das Absolute auch nicht als Object zu denken, denn alles Objective ist stets nur ein Secundäres, nämlich eine Vorstellung. Beim Objectiven können wir nie zu einem Ruhepunkt, einem Letzten und Ursprünglichen gelangen, weil wir hier im Gebiete der Vorstellungen sind, diese aber sämmtlich dem Satz vom Grunde unterworfen sind, dessen Forderung jedes Object sogleich verfällt. Auf ein angenommenes objectives Absolutum dringt sogleich die Frage Woher? und Warum? zerstörend ein, vor der es weichen und fallen muß. (P. I, 84.) Die Gültigkeit des Satzes vom Grunde liegt so sehr in der Form des Bewußtseins, daß man schlechterdings sich nichts objectiv vorstellen kann, davon kein Warum weiter zu fordern wäre, also kein abolutes Absolutum, wie ein Brett vor dem Kopf. Daß Diesen oder Jenen seine Bequemlichkeit irgendwo still stehen und ein solches Absolutum beliebig annehmen heißt kann nichts ausrichten gegen jene unumstößliche Gewißheit a priori. (W. I, 573 fg.)

3) Gegen den Mißbrauch, der mit dem "Absoluten" getrieben wird

Das ganze, sich für Philosophie ausgebende Gerede vom Absoluten läuft auf einen verschämten und daher verlarvten kosmologischen Beweis zurück. (W. II, 50.) Es ist nichts Anderes, als der kosmologische Beweis incognito. (W. I, 574. P. I, 123.)
Diejenigen, welche vorgeben, ein Urwesen, Absolutum oder wie sonst man es nennen will, nebst dem Proceß, den Gründen, Motiven oder sonst was, infolge welcher die Welt daraus hervorgeht oder quillt, oder fällt, oder producirt, ins Dasein gesetzt, "entlassen" und hinauskomplimentirt wird, zu erkennen, - treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane. (W. II, 206.)

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Abstract. Abstacte Vorstellung. Abstracte Erkenntniß

1) Das Abstracte als Gegensatz des Intuitiven

Der Hauptunterschied


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