ANEIGNUNG UND POLEMIK
 

Paul Deussen: Wie Religion entsteht

Paul Deussen schreibt dazu sehr schön in seiner "Philosophie des Veda bis auf die Upanishad´s" (ich zitiere nach der 5. Auflage aus dem Jahre 1922):

Die erste und älteste Philosophie eines Volkes liegt in seiner Religion. Denn diese enthält den ersten Versuch, das Dasein und seine Phänomene zu verstehen und zu deuten. Es bietet aber dieses Dasein der Betrachtung zwei Seiten: A. die Außennatur mit ihren mannigfachen, die Furcht erregenden, die Hoffnung nährenden, die Wißbegierde anreizenden Erscheinungen, auf die sich das Nachdenken richten mußte, sobald es überhaupt ein Nachdenken gab, d.h. sobald der Mensch zum Menschen geworden war, und B. die Innennatur, das Reich der Empfingungen, die Phänomene des Erkennens und Wollens befassend, welche ebenso ursprünglich ist, ebenso früh vorlag wie die Außenwelt, aber erst viel später als diese anfing, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, da der Intellekt, wie das Auge, nach außen gerichtet und ein von Haus aus für die Erkenntnis der Außenwelt bestimmtes Organ ist.

A. Schon bei seinem ersten Erwachen zum menschlichen Bewußtsein sah sich der Mensch von einer Reihe von Naturerscheinungen und Naturkräften umgeben, von denen er sein eigenes Dasein und Wohlsein nach allen Seiten hin abhängig fühlte. Die nährende Erde, der sie befruchtende Himmel, die Sonne als Spenderin von Licht, Belebung und Gedeihen, der Sternenhimmel in seiner regelmäßigen Umdrehung, der Wind, der Regen, das Gewitter, das lebendige, hilfreiche und verderbliche Feuer, - alle diese standen ihm gegenüber als überlegene, unbegriffene Mächte, die bald segensreich, bald unheilvoll in den Lauf seines Lebens eingriffen.
Ähnlich wie der Mensch selbst nach Willkür Einwirkungen auf seine Umgebung übte, so, und nur in noch viel höherem Maße, sah er jene Naturkräfte eine Reihe von scheinbar willkürlichen Wirkungen entfalten. Es war daher ein ganz natürlicher Schritt, daß er, ähnlich wie er sein eigenes Tun von einem innern Wollen ausgehen fühlte, so auch dem Treiben jener Naturmächte als inneres Prinzip einen Willen unterlegte.
So berechtigt diese Interpretation war (wie der Verlauf der Philosophie zeigen wird), so unberechtigt war die weitere Ausgestaltung derselben: da nämlich dem Menschen die Vorstellung des Wollens von der einer wollenden, individuellen Persönlichkeit, wie er sie an sich selbst fand, unabtrennbar war, so schrieb er nun auch jenen Kräften und Erscheinungen der Natur eine zuerst nur wenig, dann aber mit Hilfe der Phantasie mehr und mehr individuell und konkret gestaltete Persönlichkeit zu; jetzt ward die Sonne zum unermüdlichen Wanderer, der seinen Weg kennt und findet, jetzt ward der Wind zum wilden Wagenfahrer oder zum Jäger, der mit Pfeil und Bogen die Wolken jagt, wie der Mensch die Tiere des Waldes, jetzt erschien das Gewitter als ein Kampf feindlicher, im Luftraume einander entgegenstehender Mächte, und der Reichtum der Vegetation ging Jahr für Jahr aus dem Mutterschoße der Erde infolge einer Befruchtung desselben durch die Zeugungskräfte des Vaters Himmel (dyaus pitar, Zeus patär, Jupiter) hervor; - so entstanden durch eine natürliche, halb unbewußte Schöpfertätigkeit des menschlichen Geistes die Götter; sie sind, wo sie immer sich finden mögen, nichts anderes als Personifikationen der Naturerscheinungen und Naturkräfte, mögen dieselben nun, wie bei den Indern, vorwiegend der äußern Natur angehören, oder, wie bei den Griechen, dem fortgeschritteneren Bewußtsein des jomerischen Zeitalters gemäß, teilweise schon (als Ares und Aphrodite, als Pallas, Hermes usw.) persönlich gestaltete Kräfte des menschlichen Innern sein.
So sind die Götter eine intellektuelle Schöpfung, mag dieselbe auch ursprünglich nicht sowohl in dem reinen Triebe des Erkennens, als vielmehr in einem praktischen Bedürfnisse wurzeln, indem man diese so personifizierten Naturmächte nach Art der menschlichen Großen durch Geschenke und Schmeicheleien (Opfer und Gebete) in ihren Willensbestimmungen beeinflussen zu können wähnte, sei es um ihren Zorn zu besänftigen, sei es, um ihrer Gnade sich zu versichern. Als solche Produkte der kindlichen Imagination würden nun die Götter in einem greifteren Zeitalter mitsamt dem Himmel, welchen sie bewohnen, als eine Fiktion fallen gelassen werden, Indra würde in die Lehre von Elektrizität, Agni in die von der Oxydation, die ganze Religion in Wissenschaft sich auflösen und verschwinden, hätte sie nicht noch ihren Halt in einem andern Verhältnis, welches jeder Zersetzung durch die physischen Wissenschaften widersteht: dieses Verhältnis liegt auf dem, spät erst die Aufmerksamkeit auf sich lenkenden, aber als wirksam schon von jeher vorhandenen Gebiete der innern Erfahrung, von dem jetzt zu reden sein wird.

B. Die Begriffe über das, was "gut" und "böse" sei, sind je nach Ort und Zeit sehr verschieden gewesen und zeigen die mannigfaltigsten Abstufungen, von dem brutalen Kannibalen und dem wilden Fanatiker an, welche Gewissensbisse darüber empfinden, daß sie ihren Gegner nicht verspeist oder verbrannt haben, bis hinauf zu dem Christlichgesinnten, der Gewissensbisse darüber empfindet, daß er sich darauf betrifft, seinen Feind nicht zu lieben und das Übelwollen gegen ihn nicht los werden zu können.
Merkwürdig aber ist, daß dessen ungeachtet alle, vom Wilden bis zum Heiligen, darin übereinstimmen, irgendwelche Handlungen für gut, d.h. unbedingt löblich, und irgendwelche andere für böse, d.h. unbedingt tadelnswert, bei sich und andern anzusehen.
Man hat sich viel Mühe gegeben, den Ursprung solcher imperativer Vorstellungen zu erforschen und hat gemeint, daß die Begriffe gut und böse (beziehungsweise schlecht), ursprünglich so viel bedeuteten wie nützlich und schädlich, oder allgemein-nützlich und allgemein-schädlich, oder stark und schwach, oder aristokratisch und gemein, oder von Gott geboten und von Gott verboten usw., und dies alles mag auch historisch seine Richtigkeit haben; die Frage ist nur, wie man dazu gekommen ist, diese Begriffe so zu modifizieren, daß nach Abstreifung der Nebenbestimmungen des Nutzens, der Abstammung oder des Gottgebotenseins die reinen Vorstellungen eines unbedingt zu Tuenden und unbedingt zu Meidenden übrig blieben.
Ohne Zweifel haben sich diese Begriffe erst nach und nach entwickelt, wie die Pflanze aus dem Samenkorn; sie würden sich aber nicht in dieser Richtung entwickelt haben, wenn sie nicht als Samenkorn, als ursprüngliche Anlage in der menschlichen Natur gelegen hätten. Ohne also jenen Entwicklungstheorien ihr historisches Recht abzustreiten, wollen wir doch abwarten, ob ihre Tragweite so weit geht, folgende Erwägungen zu entkräften.

Daß das hauptsächliche Triebrad der menschlichen Handlungen von jeher der Egoismus gewesen ist, wird niemand bezweifeln, sowie auch, daß dieser Egoismus oft in unliebsamer Weise sich geltend machte, um den Mitmenschen, und zwar nicht nur den feind, sondern auch den Verwandten, den freund, den Bruder, mit einem Worte den Nächsten zu schädigen.
Daß dieser Einbruch in die Rechte und Interessen eines andern von jeher Mißbilligung erregte, nicht nur bei dem Betroffenen, sondern auch bei dem Unbeteiligten, - daß der Habgierige, der Grausame, der Feigling, der Hinterlistige von jeher von der menschlichen Gesellschaft (wie Kanin von Jehovah) gezeichnet waren, ist völlig gewiß.
Weiter aber wird jeder zugeben, daß es überall und immer auch Menschen gegeben hat, welche es über sich vermochten, den Egoismus, den wir als die eigentliche "Natur" bei jedem voraussetzen, einzuschränken und zu bezwingen, sofern sie das eigene Selbst und seine Interessen ganz oder teilweise irgendeinem nicht-egoistischen Zwecke zum Opfer brachten, sei es, daß diese Selbstverleugnung sich betätigte in der brutalen Form der Tapferkeit, welche die eigene Gefahr nicht scheut, der erlittenen Schmerzen und Wunden lacht, oder in dem Ertragen von Hunger, Durst und Entbehrung, oder in der Treue dem gegebenen Versprechen, in der Gerechtigkeit, welche des andern Leid nicht will, und in dem Mitleide, welches bereit ist, dem Nächsten auch ohne Hoffnung auf Entgelt durch eigene Opfer in seiner Not zu helfen.
Solche Menschen nannte man gut, und solche Menschen hat es zu jeder Zeit gegeben.
Der Unterschied zwischen guten und bösen, zwischen selbstsüchtigen und selbstlosen Menschen ist somit uralt, ja so alt wie die Menschheit selbst.
Viel später hingegen und bei einigen Völkern (wie sogleich schon bei den Indern) sehr wenig entwickelt ist die Reflexion über diesen Gegensatz und seinen Ursprung, über die wunderbare Tatsache, daß ein Mensch instande ist, seine eigenen, wohlverstandenen Interessen hintanzusetzen und um eines andern willen zu verleugnen.
Dunkel fühlt man, daß hier eine höhere Macht über den Menschen kommt, ein höherer Wille, der mit den eigenen, auf Selbsterhaltung gerichteten Willen in Widerspruch steht, mithin diesem seine Bestimmungen gleichwie ein Gesetz aufnötigt, das ein anderer uns gibt.
Aber woher dieser höhere Wille und das Gesetz, das von ihm ausgeht? - Hier stand man vor einem erstaunlichen, schwer zu lösenden Rätsel.

Und hier vollzieht sich nun jene merkwürdige Verschmelzung zweier völlig heterogener Elemente, in welcher alle Religion besteht, indem man das sittlich Gute, da es aus der eigenen Natur und ihren Interessen nicht abzuleiten war, auffaßte als beruhen auf dem Willen eben jener Persönlichkeiten, die man durch Personifikation der umgebenden Naturerscheinungen gewonnen hatte.
Ihre Übermacht, die Stetigkeit ihres Wirkens, die Abgelöstheit derselben von den individuellen Interessen der Menschen, alles dies führte dazu, auch das Sittliche im Menschen für eine Manifestation jener durch die dichtende Phantasie mit Wille und Persönlichkeit ausgestatteten Naturkräfte zu halten, und so z.B. in dem allsehen Varuna und Helios den Wächter über Guten und Böses, in dem donnernden Jehovah den verkündiger einer moralischen Weltordnung zu erkennen.
Es beruht also die Religion auf einer Verschmelzung zweier, ursprünglich völlig verschiedener Elemente, A. einer Personifikation der Naturgesetze, und B. einer solchen des Sittengesetzes, die wir als das mythologische und das moralische Element der Religion hier und in der Folge unterscheiden wollen.
Es wird sich im Verlaufe zeigen, daß eine jede Religion um so besser, um so mehr Religion ist, je reiner in ihr das moralische Element hervortritt, und um so schlechter, um so weniger ihrem eigentlichen Zweck und Wesen entsprechend, je mehr das Moralische in ihr von mythologischen Vorstellungen überwuchert und verdunkelt wird.

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