ANEIGNUNG UND POLEMIK
 

Paul Deussen und der Kern des Christentums

Für Paul Deussen besteht das Wesen des Christentums

in einem Gedanken, welcher so ewig ist wie die Welt und nie erlöschen wird: es ist der indisch-platonisch-christliche Gedanke, daß unser Erdendasein nicht Selbstzweck ist, wie alle eudämonistische Ethik annimmt, daß vielmehr die höchste Aufgabe des Lebens darin besteht, auf dem Wege der Selbstverleugnung, welche das Wesen aller echten Tugend ausmacht, uns von dem uns allen angeborenen Egoismus zu läutern und dadurch unserer ewigen Bestimmung entgegenzureifen, welche uns im übrigen unbekannt bleibt und bleiben muß, soll nicht die Reinheit des moralischen Handelns gefährdet werden.

Zum Kern des Christentums heißt es:

Vier große Grundwahrheiten sind es, welche die Philosophie dem Christentum verdankt, und welche sie nie aufgeben kann, will sie nicht das Beste verlieren, was sie überhaupt besitzt.

Erste Wahrheit: Der Determinismus
Daß der Wille des Menschen nicht frei, sondern durch die jedemaligen Motive mit Notwendigkeit bestimmt ist, daß, mit andern Worten, dem die ganze Natur beherrschenden Kausalitätsgesetz auch das Wollen und Handeln des Menschen unterliegt, ist eine Grundwahrheit, deren Spuren sich zwar auch in dem indischen, griechischen und althebräischen Denken nachweisen lasse, welche aber erst von Jesus und Paulus mit voller Deutlichkeit ausgesprochen und zum Grundstein ihrer ganzen Weltanschauung gemacht worden ist. Wie der Baum, so seine Früchte, wie der Mensch, so seine Taten. Dieses von Jesu gebrauchte Bild läßt keinen Zweifel darüber, daß er die Unfreiheit des Willens mit aller Deutlichkeit erkannt hat. Dieselbe Erkenntnis finden wir beim Apostel Paulus, nur daß sie sich bei ihm mit dem aus dem Alten Testament vererbten Theismus verbindet und dadurch zur Prädestination als ihrer Konsequenz führt. Wie der Mensch geschaffen ist, so ist er beschaffen, und wie er beschaffen ist, so muß er handeln. Frei sein kann nur ein solches Wesen, welches sich selbst erschaffen, welches die Beschaffenheit, nach der es mit Notwendigkeit handelt, aus sich selbst heraus geboren hat.

Zweite Wahrheit: Der kategorische Imperativ
Jesus und Paulus lassen sich durch die von beiden klar erkannte Unfreiheit des Willens nicht davon abhalten, unermüdlich vom Menschen zu fordern, daß er das Gute vollbringe und das Böse meide. Diese Imperative, von denen Jesu Worte und Pauli Schriften voll sind, müssen als kategorische im Kantischen Sinne anerkannt werden. Zwar ist oft genug im Neuen Testament vom himmlischen Lohn, von der Aussicht auf einen seligen Endzustand die Rede; aber es ist etwas ganz anderes, ob dieser himmlische Lohn als Grund für das sittliche Wohlverhalten, oder ob er nur als eine Folge desselben erscheint. Letzteres ist auch bei Kant der Fall, wenn er in der Dialektik der praktischen Vernunft Unsterblichkeit und jenseitige Vergeltung als Postulate aufstellt, ohne daß darum jener Imperativ aufhört, ein kategorischer zu sein. welchen er formuliert in den Worten: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese Worte sagen nicht, daß wir die allgemeine Glückseligkeit befördern sollen, weil unsere eigene darin mit einbegriffen ist, sondern ihr wahrer und tieferer, wenn auch nicht überall von Kant streng festgehaltener Sinn ist: Handle nicht individuell, sondern überindividuell, handle so, wie der handeln würde, den du dir als den allgemeinen Gesetzgeber des Weltalls vorstellst. So aufgefaßt trifft der Kantische Imperativ mit dem Jesu zusammen: "darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist". Schärfer noch aber als bei Kant in dem Kapitel von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft tritt der wahre Inhalt dieses kategorischen Imperativs hervor in den Worten Jesu: "Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir" (Matth. 16,24), und in den Worten Pauli: "Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden" (Gal. 5,24). Unter Fleisch ist hier wie überall bei Paulus der Egoismus zu verstehen, welcher die Wurzel des ganzen natürlichen Menschen bildet, und aus welchem alle Handlungen desselben nach dem Kausalitätsgesetz mit Notwendigkeit hervorgehen, daher es Röm. 7,18 heißt: "Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes."

Dritte Wahrheit: Die Wiedergeburt
Hieraus ergibt sich, daß nicht ein bloßes Tun und Lassen, sondern eine völlige Neuschöpfung (kainä ktisis), eine Umwandlung des alten Menschen in den neuen, wie Paulus, eine Wendung des Willens von der Bejahung zur Verneinung, wie Schopenhauer sagt, dasjenige ist, was dem aus den letzten metaphysischen Tiefen unserer Natur entspringenden kategorischen Imperativ Genüge leistet. Diese Wiedergeburt erscheint in der Darstellung bei Paulus wie bei Schopenhauer in der Regel als ein einmaliger Akt, indem beide in der begrifflichen Betrachtung zusammenrücken, was sich meist nur allmählich im Verlauf des ganzen empirischen Daseins vollzieht. Denn der höchste Zweck und der eigentliche Sinn des Daseins besteht darin, daß der sich bejahende Wille aus der Erkenntnis der Folgen dieser Bejahung an sich selbst und in der umgebenden Außenwelt nach und nach zu einer Läuterung des ihm eingeborenen Egoismus gelangt. "Aus der Erkenntnis entspringt Erlösung" (jnanad mokshah), wie die Inder sagen, aber diese Erkenntnis ist keine Erkenntnis, wie sie dem natürlichen Willen die Motive seines Handelns liefert, sondern ganz anderer Art, und kann durch keine Belehrung, kann überhaupt nicht durch natürliche Mittel bewirkt werden.

Vierte Wahrheit: Der Monergismus
Wenn das Christentum in seinen hellsten Augenblicken und da, wo es konsequent ist, erklärt, daß diese Umwandlung, weil sie den ganzen natürlichen Menschen betrifft, nicht von diesem selbst, sondern von Gott, von dem, was das Christentum Gott nennt, gewirkt werde, so wird sich eine tiefere Philosophie dieser reinlichen Scheidung der natürlichen, d.h. egoistischen, und der moralischen, d.h. das eigene Selbst verleugnenden Handlungen, voll und ganz anschließen müssen. Beide sind so entgegengesetzt wie Tag und Nacht, wenn sie auch eben wie diese empirisch ununterscheidbar zusammenfließen und in einander übergehen. Jede Handlung, deren letzter Zweck die Beförderung des eigenen Wohles ist, entspringt aus dem Egoismus, dieser Wurzel des natürlichen Menschen, und jede Handlung, auch die kleinste, bei welcher das Bewußtsein vorhanden ist, unser eigenes Wohl einem höhern Zweck zum Opfer zu bringen, ist aus der natürlichen Ordnung der Dinge nicht abzuleiten oder zu begreifen. Sie wird, wie das Christentum sagt, durch Gott gewirkt. Aber das ist eben der tiefere Sinn des Gottesbegriffes, daß unser empirisches Dasein, welches den Gesetzen des Raumes, der Zeit und der Kausalität unterliegt, folglich egoistisch, sterblich und unfrei ist, nicht unser wahres, metaphysisches Wesen, sondern eine Abirrung von demselben bedeutet, aus welchem wir, wie eine innere Stimme fordert, zu unserer eigenen, an sich seienden, raumlosen, zeitlosen, kausalitätslosen, folglich sündlosen, unsterblichen und freien Wesenheit, mit anderen Worten zu Gott zurückkehren sollen. Jede egoistische Handlung entspringt aus dem angeborenen Befangensein in Raum, Zeit und Kausalität, ist somit unfrei, und die mit dieser empirischen Unfreiheit nach Kants Lehre zusammenbestehende Freiheit des Willens bedeutet nichts Geringeres, als die bei jeder Handlung unseres Lebens offenstehende Möglichkeit, daß wir imstande sind, wie ein Vogel aus der Schlinge, uns von dem ganzen phantasmagorischen Zyklus der Realität loszumachen und uns auf unsere an sich seiende, göttliche Natur zurückziehen, d.h. zu Gott zurückkehren.

(Quelle: Paul Deussen, Die biblisch-mittelaterliche Philosophie)

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